Entscheidungsstichwort (Thema)

Rente wegen Erwerbsminderung. Hinzuverdienstgrenze. zweimaliges Überschreiten. kein Hinzuverdienst im Vormonat. Vormonatsprinzip. Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Das zur Bestimmung der Hinzuverdienstgrenzen bei Erwerbsminderungsrenten nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts grundsätzlich heranzuziehende Vormonatsprinzip findet in Fällen, in denen im Vormonat noch kein Hinzuverdienst erzielt wurde, keine Anwendung und steht der Annahme eines privilegierten Überschreitens im Sinne des § 96a Abs 1 S 2 SGB 6 nicht entgegen.

 

Orientierungssatz

Die strikte Anwendung des Vormonatsprinzips führt in diesen Fällen zu ungerechten Ergebnissen, die sich mit keinem sachlichen Grund rechtfertigen lassen und ist mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG nicht zu vereinbaren (vgl LSG Celle-Bremen vom 12.8.2009 - L 2 R 271/09 und LSG Berlin-Potsdam vom 21.1.2010 - L 3 R 1350/06). Dies hätte nämlich zur Folge, dass Versicherte, die im gesamten Kalenderjahr Einkommen erzielen und die Hinzuverdienstgrenze lediglich zweimal überschreiten gegenüber Versicherten, die nur in zwei Monaten des Jahres Einkommen erzielen und in diesen Monaten die Hinzuverdienstgrenze ebenfalls überschreiten, privilegiert würden, obwohl sie - auf das Kalenderjahr gerechnet - einen wesentlich höheren Verdienst erzielen konnten (vgl LSG Berlin-Potsdam vom 21.1.2010 - L 3 R 1350/06).

 

Tenor

Der Bescheid vom 26.06.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.01.2007 wird aufgehoben.

Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Berufung wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung und Rückforderung von gewährten Rentenleistungen.

Mit Bescheid vom 12.09.2002 bewilligte die Beklagte der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung in voller Höhe und damit in Höhe von monatlich 641,31 € ab dem 01.10.2002 (nach Bl. 20 Verwaltungsakte). Der Rentenbescheid enthielt auf Seite 4 Hinweise zu den Hinzuverdienstgrenzen. Dort heißt es:

“Liegt bei Aufnahme bzw. Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit weiterhin volle Erwerbsminderung vor, wird die Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht oder in verminderter Höhe geleistet, sofern durch das erzielte Einkommen (Bruttoverdienst aus Beschäftigung bzw. Gewinn aus selbständiger Tätigkeit) die für diese Rente maßgebende Hinzuverdienstgrenze überschritten wird. Die Hinzuverdienstgrenze beträgt monatlich 325,00 €. Wird die Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht während des gesamten Kalendermonats ausgeübt, gilt eine entsprechend anteilige, also niedrigere Hinzuverdienstgrenze. (…)

Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns die Aufnahme oder Ausübung einer über diesen Rahmen hinausgehenden Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit (…) unverzüglich mitzuteilen.„

Die Anlage 19 zum Rentenbescheid vom 12.09.2002 erläutert die Einzelheiten zu den Hinzuverdienstgrenzen. Dort wird u.a. ausgeführt:

“Die jeweils maßgebende Hinzuverdienstgrenze darf zweimal im Laufe eines Kalenderjahres bis zum Doppelten der für einen Monat geltenden Hinzuverdienstgrenze überschritten werden, wenn die Überschreitungen wegen einmalig gezahltem Arbeitsentgelt (z.B. Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld) eintreten.„

Die Gewährung der befristeten Erwerbsminderungsrente wurde in der Folgezeit verlängert. In der Zeit vom 04.05.2005 bis zum 02.07.2005 ging die Klägerin einer Aushilfstätigkeit auf einer Obstplantage nach. Im Mai 2005 verdiente die Klägerin dort 475,65 € brutto. Im Juni 2005 belief sich der Hinzuverdienst auf 412,65 € und im Juli 2005 auf 23,24 € brutto (Bl. 51 Verwaltungsakte).

Im Rahmen eines Datenabgleichs erlangte die Beklagte Kenntnis von diesem Hinzuverdienst (Bl. 47 Verwaltungsakte).

Die Beklagte ging davon aus, dass die Klägerin die im Jahr 2005 für sie maßgebliche Hinzuverdienstgrenze in Höhe von 345,00 € im Mai und Juni 2005 überschritten habe, so dass für diese beiden Monate nur ein Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von drei Vierteln bestehe und es damit zu einer Überzahlung in Höhe von 319,78 € gekommen sei. Mit Schriftsatz vom 26.04.2006 hörte die Beklagte die Klägerin zu einer möglichen Überzahlung der Rentenleistungen an. Es werde beabsichtigt, einen Bescheid nach § 48 SGB X zu erlassen und überzahlte Leistungen in Höhe von 319,78 € zurückzuverlangen. In dem Anhörungsschreiben heißt es (Bl. 57 Verwaltungsakte, Rückseite):

“Die Möglichkeit des zweimaligen Überschreitens bis zum Doppelten der maßgebenden Hinzuverdienstgrenze im Laufe eines Kalenderjahres findet in Ihrem Fall keine Anwendung. Maßgebend kann eine Hinzuverdienstgrenze nur dann sein, wenn im Vormonat tatsächlich ein Hinzuverdienst vorhanden war. Ist dies nicht der Fall, ist der Hinzuverdienst grundsätzlich der einfachen Hinzuverdienstgrenze gegenüberzustellen.„

Mit Schriftsatz vom 12.06.2006 antwortete die Klägerin auf das Anhörungsschreiben, dass sie keine Kenntnis davon gehabt habe, dass ...

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