Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Orthesenstrümpfe. keine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens. kein Eigenanteil
Leitsatz (amtlich)
1. Bei Orthesenstrümpfen handelt es sich um Zubehör im Rahmen der Hilfsmittelversorgung nach § 33 SGB V, nicht um Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens.
2. Die Krankenkasse darf Versicherte nicht auf herkömmliche Kinderstrumpfhosen oder Funktionstextilien als Ersatz verweisen. Diese sind zur Dauerversorgung unter Beinorthesen weder geeignet noch zumutbar. Dies gilt insbesondere dann, wenn tagsüber Windelwechsel oder Katheterisierungen notwendig sind.
3. Sind zur Versorgung Orthesenstrümpfe mit Fuß erforderlich, hat der Versicherte keinen Eigenanteil für die ersparte Anschaffung von Strümpfen zu tragen (abweichend zu SG Chemnitz vom 16.5.2012 - S 10 KR 456/10).
Tenor
1. Unter Aufhebung des Bescheides vom 26.09.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.05.2019 wird die Beklagte verurteilt, den Kläger mit den verordneten Orthesenstrümpfen zu versorgen.
2. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers hat die Beklagte zu tragen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte den Kläger mit Orthesenstrümpfen versorgen muss.
Der 2011 geborene Kläger ist bei der Beklagten familienversichert. Er leidet an einer Spina bifida (Neuralrohrfehlbildung) mit teilweiser Lähmung der Beine und ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Der Kläger besucht derzeit die dritte Klasse einer Regelgrundschule. Er ist zulasten der Beklagten mit einem Kinderrollstuhl, einem Rollator, Beinorthesen und einem Rollbrett für den Sportunterricht versorgt. Während des Schulbesuchs steht ihm eine Integrationskraft zur Verfügung. Ein spontanes Wasserlassen ist beim Kläger nicht möglich. Er ist auf Windeln angewiesen und muss tagsüber vier bis sechs Mal katheterisiert werden.
Am 20.08.2018 verordneten die behandelnden Fachärzte des Kinderneurologischen Zentrums dem Kläger „1 Paar Orthesenstrümpfe“. Der Kostenvoranschlag des Orthopädietechnikers vom 11.09.2018 wies für eine Neulieferung von Orthesenstrümpfen der Marke „SmartKnit“ einen Einzelpreis von 20,99 € aus. Verordnung und Kostenvoranschlag gingen bei der Beklagten zusammen mit dem Hinweis auf ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Chemnitz vom 16.05.2012 (Az. S 10 KR 456/10) am 11.09.2018 ein. Die Beklagte lehnte den Antrag auf Kostenübernahme mit Bescheid vom 26.09.2018 ab. Aus den vorliegenden Unterlagen gehe keine medizinische Begründung hervor, warum nicht handelsübliche Strümpfe unter den Orthesen genutzt werden könnten.
Mit dem am 22.10.2018 bei der Beklagten eingegangenen Widerspruch wandte der Vater des Klägers ein, dass herkömmliche Strümpfe bei einer Versorgung mit Beinorthesen nicht ausreichten. Die Haut am Fuß sowie am Unter- und Oberschenkel des Klägers sei zum größten Teil von der Orthese bedeckt. Der austretende Schweiß könne deshalb im abgedeckten Bereich nicht verdunsten. Die beantragten Orthesenstrümpfe seien so gearbeitet, dass sie die auftretende Feuchtigkeit zum Abdunsten an die nicht bedeckten Flächen transportierten. Zusätzlich wiesen die Orthesenstrümpfe im Vergleich zu gewöhnlichen Kinderstrümpfen eine deutlich höhere Kompressionswirkung auf. Da sie ohne Nähte gearbeitet seien, würden Druckstellen, Einschnürungen und Zirkulationsstörungen vermieden. Dass es sich nicht um Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, sondern um Hilfsmittel handele, sei bereits am Preis zu erkennen.
Die Beklagte legte die Unterlagen dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) vor. Dieser kam in seiner Stellungnahme nach Aktenlage vom 06.02.2019 zu folgendem Ergebnis: Der im Kostenvoranschlag genannte Strumpf sei ohne Ferse gearbeitet und dafür vorgesehen, um ihn unter einer Beinorthese zu tragen. Der Strumpf biete ohne störende Nähte einen angenehmen Tragekomfort ohne sonst mögliche Druckstellen und ggf. Einschnürungen bei Nutzung von Beinorthesen. Die beantragten Strümpfe könnten grundsätzlich unter der Abrechnungsposition 23.99.99.0900 im Hilfsmittelverzeichnis als Orthesen-Zubehör verordnet werden. Es sei jedoch eine Begründung für die Notwendigkeit des Zubehörs erforderlich. Diese liege hier nicht vor. Es sei auch nicht medizinisch nachvollziehbar, aus welchem Grund keine handelsüblichen Strümpfe geeignet seien und unter der Orthese getragen werden könnten. In einer weiteren Stellungnahme nach Aktenlage vom 19.02.2019 wies der MDK darauf hin, dass im Hinblick auf die genannte spezielle Verarbeitung der Orthesenstrümpfe auch auf handelsübliche nahtlose Strümpfe oder Strumpfhosen aus Funktionstextilien mit vergleichbaren Materialeigenschaften zurückgegriffen werden könne. Das übersandte Urteil des SG Chemnitz vom 16.05.2012 betreffe einen anderen Fall: Der dortige Versicherte habe eine beidseitige Klumpfußfehlstellung, sodass die Verordnung von Orthesenstrümpfen aufgrund der zusätzlich erforderlichen Kompressionswirkung medizinisch begründet gewesen sei. Eine solche medizinische Notwendigkeit sei...