Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen eines Anspruchs des behinderten Versicherten auf Versorgung mit einem elektrischen Rollstuhl einschließlich elektrischem Zuggerät zur Überwindung der Bordsteine
Orientierungssatz
1. Ein Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit einem Hilfsmittel durch die Krankenkasse besteht nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Variante 3, wenn dieses erforderlich ist, um eine bestehende Behinderung auszugleichen.
2. Ein Hilfsmittel dient dem Ausgleich der Behinderung, wenn es seinem Zweck entsprechend die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mindert und damit der Befriedigung eines Grundbedürfnisses und einem möglichst selbstbestimmten und selbständigen Leben dient.
3. Der Anspruch auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich ist nicht von vornherein auf die Minimalversorgung beschränkt, sondern kommt bereits in Betracht, wenn das Hilfsmittel wesentlich dazu beitragen oder zumindest maßgebliche Erleichterungen bringen würde, Versicherten den Nahbereich der Wohnung und elementare Freizeitwege in zumutbarer Weise zu erschließen.
4. Entscheidend ist, ob der Nahbereich ohne ein bestimmtes Hilfsmittel nicht in zumutbarer Weise erschlossen werden kann und dies durch ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich verbessert, vereinfacht oder erleichtert werden kann.
5. Ist zwischen Versichertem und dessen Krankenkasse die Versorgung mit einem elektrischen Rollstuhl unstreitig, so hat er darüber hinaus Anspruch auf Versorgung mit einem Rollstuhlzuggerät mit Handkurbel und elektrischer Unterstützung, wenn er nur auf diese Weise Bordsteine selbständig überwinden kann.
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 08.05.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2021 verurteilt, den Kläger mit einem "NJ1 e-assistant Neodrives" zu versorgen.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Übernahme der Kosten für einen Rollstuhl-Zuggerät mit Handkurbel und elektrischer Unterstützung "NJ1 e-assistant Neodrives".
Der am 00.00.1981 geborene Kläger leidet u.a. an einer chronischen Polyarthritis und einem Rheumatismus und ist dauerhaft auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen. Er ist mit einem Aktivrollstuhl versorgt, der mit einer speziellen Federung und einer auf den Kläger angepassten Rücken- und Sitzeinheit ausgerüstet ist. Am 06.01.2020 beantragte der Kläger unter Vorlage eines Kostenvoranschlages der Firma O. Zentrum für Gesundheit, eines Erprobungsberichtes vom 05.10.2019 sowie einer ärztlichen Verordnung vom 03.12.2019 der Fachärzte für Allgemeinmedizin Dres. B. die Kostenübernahme für ein "NJ1 e-assistant Neodrives". Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit bestandskräftigem Bescheid vom 17.01.2020 ab. Am 05.05.2020 beantragte der Kläger erneut das gleiche Rollstuhlzuggerät unter Vorlage eines neuen Kostenvoranschlags der Firma O. vom 05.05.2020 über 7.877,99 Euro, einer ärztlichen Verordnung derselben Fachärzte für Allgemeinmedizin mit Datum vom 06.04.2020 und eines ärztlichen Entlassungsberichts vom 25.11.2019 der stationären Behandlung vom 24.10.2019 bis 21.11.2019 im Rheumazentrum Y.
Mit Bescheid vom 08.05.2020 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte sie aus, für Erwachsene sei das Rollstuhl-Bike als Hilfsmittel ausgeschlossen. Nach der Rechtsprechung werde die Hilfsmitteleigenschaft verneint, weil sein Einsatz grundsätzlich nicht zur Lebensbewältigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt werde. Das Radfahren selbst zähle nicht zu den Grundbedürfnissen. Dagegen legte der Kläger mit Schreiben vom 29.05.2020 Widerspruch ein und führte aus, aufgrund der ständigen Rollstuhlnutzung seien mittlerweile auch Beeinträchtigungen an den oberen Extremitäten aufgetreten. Allein mit dem Aktivrollstuhl sei er daher nicht mehr in der Lage, seinen Nahbereich zu erschließen. Mit Schreiben vom 03.06.2020 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) eingeholt werde. Der MDK zog zunächst ein Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI sowie Befundberichte des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. B. bei und wertete diese aus. Mit Gutachten vom 18.11.2020 gelangte der MDK zu der Einschätzung, die vorhandene Versorgung erscheine zur Sicherung des Nahbereichs ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich. Unter anderem führte er aus, laut Herstellerangaben lasse sich mit dem begehrten Hilfsmittel auch eine extremste Steigung problemlos meistern. Das Wohnumfeld des Versicherten sei im Erprobungsbericht als flaches Wohnumfeld angegeben worden. Im Widerspruch zu den Feststellungen im Pflegegutachten, wonach im Bereich der oberen Extremitäten Schmerzen in den Händen, Schultern und Gelenken der Beine beschrieben wurden, und der Rollstuhl weitgehend vom Pflegepersonal geschoben werden müsse, stehe das im Rehabericht angegebene Hobby des Versicherten. Danach b...