Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts. Einkommensberücksichtigung. Kindergeldnachzahlung. Belastung mit einer Rückzahlungsverpflichtung. Zahlung ohne rechtlichen Grund. Erfüllungsfiktion. Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Grundsicherungsträgers gegen die vorrangig verpflichtete Familienkasse. laufende Kindergeldzahlungen. Berücksichtigung als Einkommen des Kindergeldberechtigten. Vertrauensschutz. grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts
Leitsatz (amtlich)
1. Als Einkommen iS des § 11 Abs 1 SGB II sind nur solche Einnahmen anzusehen, die einen Zuwachs von Mitteln bedeuten, der dem Hilfebedürftigen zur endgültigen Verwendung verbleibt. Entsteht eine Verpflichtung zur Rückzahlung einer Einnahme erst nach dem Monat des Zuflusses, bleibt es für den Zuflussmonat bei der Berücksichtigung als Einkommen (vgl BSG vom 23.8.2011 - B 14 AS 165/10 R = SozR 4-4200 § 11 Nr 43).
2. Zahlt die Familienkasse irrtümlich steuerrechtliches Kindergeld an den SGB II-Leistungsbezieher nach, obwohl der Anspruch wegen eines bestehenden Erstattungsanspruchs des Grundsicherungsträgers bereits als erfüllt gilt, handelt es sich hierbei nicht um Einkommen, da die Einnahme unmittelbar mit einer wirksamen Rückzahlungsverpflichtung belastet ist. Dies gilt auch, wenn der Rückforderungsanspruch von der Familienkasse erst nach dem Monat des Zuflusses mit Bescheid geltend gemacht wird.
3. Für die Bösgläubigkeit iS des § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X ist es ausreichend, wenn der Leistungsempfänger im Rahmen einer sog Parallelwertung in der Laiensphäre wusste oder wissen musste, dass ihm die zuerkannte Leistung so nicht zusteht (vgl BSG vom 24.6.2020 - B 4 AS 10/20 R = SozR 4-1300 § 45 Nr 23).
4. Die Rechtswidrigkeit eines Bewilligungsbescheids, in dem der Grundsicherungsträger entgegen der gesetzlichen Regelung des § 11 Abs 1 S 5 SGB II Kindergeld nicht als Einkommen des Kindes, sondern des Kindergeldberechtigten berücksichtigt hat, muss ein Leistungsbezieher jedenfalls ohne einen vorherigen, eindeutigen Hinweis zur Rechtslage nicht erkennen.
Tenor
I. Der Bescheid vom 08.02.2019 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 19.02.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.04.2019 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen die teilweise Rücknahme der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für Juni bis November 2018 und deren Rückforderung.
Die im Dezember 2017 geborene Klägerin wohnte zusammen mit ihrer Mutter in einer Wohnung, für die eine monatliche Gesamtmiete von 497 Euro zu zahlen war. Für Dezember 2017 bis März 2018 bewilligte ihnen der Beklagte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Berücksichtigung der tatsächlichen Mietkosten und ohne Anrechnung von Einkommen. Im Januar 2018 meldete der Beklagte bei der beigeladenen Familienkasse vor dem Hintergrund eines etwaigen Anspruchs auf Kindergeld einen Erstattungsanspruch an. Für die Zeit von April bis September 2018 bewilligte der Beklagte der Klägerin und ihrer Mutter zunächst vorläufig Leistungen, wiederum ohne Anrechnung von Einkommen.
Mit Schreiben vom 08.06.2018 teilte die Beigeladene dem Beklagten mit, dass für die Klägerin für Dezember 2017 ein Anspruch auf Kindergeld i.H.v. 192 Euro bestehe, ab Januar 2018 i.H.v. 194 Euro monatlich, woraufhin der Beklagte den Erstattungsanspruch für die Zeit von Dezember bis Juni auf insgesamt 1.356 Euro bezifferte und geltend machte. Das entsprechende Schreiben ging am 14.06.2018 bei der Beigeladenen ein. Mit Bescheid vom 19.06.2018 setzte die Beigeladene für die Klägerin entsprechend Kindergeld auf steuerrechtlicher Grundlage nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) fest. Der Bescheid enthielt den Hinweis, dass der Anspruch der Mutter der Klägerin gegenüber für den Zeitraum von Dezember 2017 bis einschließlich Juni 2018 i.H.v. 1.356 Euro als erfüllt gelte, weil der Beklagte für den gleichen Zeitraum Kindergeld vorgeleistet habe. Für den genannten Zeitraum würden keine Leistungen ausgezahlt.
Ungeachtet dessen zahlte die Beigeladene nach Erlass des Bescheides dennoch Kindergeld rückwirkend ab Dezember 2017 an die Mutter der Klägerin aus. Der Betrag i.H.v. 1.356 Euro wurde Ende Juni 2018 auf deren Girokonto gutgeschrieben.
Mit Bescheid vom 22.08.2018 bewilligte der Beklagte der Klägerin und ihrer Mutter für die Zeit vom 01.04.2018 bis 30.09.2018 abschließend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Dabei wurden die tatsächlichen Mietkosten als Bedarfe für die Unterkunft und Heizung anerkannt. Ab Juli wurde bei der Mutter der Klägerin Kindergeld i.H.v. 194 Euro als eigenes Einkommen angesetzt und nach Bereinigung um die 30 Euro-Pauschale des § 6 Abs. 1 Nr. 1 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (Alg II-V) und horizontaler Verteilung anteilig i.H.v. 72,11 Euro b...