Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe für Ausländer. Einreise eines schwerbehinderten minderjährigen Unionsbürgers zu Eltern. vorherige Antragstellung. Leistungsanspruch. Beweislast. stationäre Unterbringung. örtliche Zuständigkeit. gewöhnlicher Aufenthalt. zuerst angegangener Leistungsträger

 

Leitsatz (amtlich)

Der gewöhnliche Aufenthalt eines minderjährigen, schwerbehinderten EU-Bürgers wird bei Einreise zu seinen in Deutschland lebenden Eltern grundsätzlich durch deren Wohnort bestimmt, wenn diese für ihr Kind zuvor an ihrem Wohnort Leistungen der Eingliederungshilfe beantragt haben. Für die Eingliederungshilfe ist mithin in der Regel der elterliche Wohnsitz maßgeblich, nicht der Ort der Heimunterbringung.

 

Orientierungssatz

1. Unionsbürger aus den Beitrittsstaaten haben, solange ihnen ein Bleiberecht zusteht und sie sich tatsächlich im Inland aufhalten, zumindest einen Anspruch auf Leistungen nach § 23 SGB 12 (vgl LSG Essen vom 4.9.2006 - L 20 B 73/06 SO ER = Breith 2007, 156)

2. Reist ein Ausländer gem § 23 Abs 3 S 1 SGB 12 ein, "um Sozialhilfe zu erlangen", so ist für den Leistungsausschluss erforderlich, dass das Motiv, Sozialhilfe zu erhalten, dabei von prägender Bedeutung gewesen ist. Es muss ein finaler Zusammenhang zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe bestanden haben (hier: kein finaler Zusammenhang bei Motiv der Familienzusammenführung).

3. Die materielle Beweislast für das Vorliegen eines solchen Motivs, das Sozialleistungen ausschließt, liegt beim Sozialhilfeträger.

4. Zuerst angegangen iS des § 43 Abs 1 S 1 SGB 1 ist der Leistungsträger, der von dem Berechtigten oder seinem Vertreter mündlich oder schriftlich zuerst mit dem Leistungsbegehren befasst wird (vgl BVerwG vom 19.11.1992 - 5 C 33/90 = BVerwGE 91, 177 = NVwZ-RR 1993, 628).

 

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, vorläufig Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) für den Antragsteller in der Stiftung “F.„ im Kinderwohnheim D., Landkreis Sömmerda, nach dem Heimvertrag vom 28.03.2007 zu bewilligen.

II. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten über die Kosten für eine Heimunterbringung.

Der 1990 geborene Antragsteller ist griechischer Staatsangehöriger und ältester Sohn von insgesamt 4 Kindern. Laut übersetztem griechischem Gutachten vom 08.03.2005 des Gesundheitsausschusses 1. Grades in Ioannina leidet er unter schwerer geistiger Behinderung bei einem Intelligenzquotienten von 25, schwerer Verhaltensstörung und ist bei einer - für sein ganzes Leben geltenden - 100 %igen Invalidität berufsunfähig. Er ist auch nicht in der Lage, allein auf die Toilette zu gehen. Die Behinderung beruht auf einer Milchaspiration kurz nach der Geburt, nachdem er zu wenig Sauerstoff bekommen hatte und der Arzt verspätet eingetroffen war.

Mit seinen Eltern reiste er 1991 nach Deutschland ein, die seitdem in L. eine griechische Gaststätte betreiben. Im Jahre 1993 kehrte der Antragsteller nach Griechenland zurück, wo er von seiner Großmutter gepflegt und von seinen Eltern nach deren Angaben regelmäßig besucht wurde. Nachdem die Großmutter gesundheitlich nicht mehr in der Lage war, ihn zu pflegen, erkundigten sich die Eltern am 01.12.2006 bei der Antragsgegnerin nach der Möglichkeit einer stationären Unterbringung. Am 27.02.2007 beantragten sie für ihn Heimunterbringung und zugleich Sozialhilfe. Ferner meldeten sie ihn am 01.03.2007 unter ihrer Wohnanschrift in L. an.

Nach Einreise am 21.03.2007 wurde der Antragsteller unmittelbar in der Stiftung “F.„ im Kinderwohnheim D./Thüringen, im Zuständigkeitsbereich des Beigeladenen, untergebracht. Antragsgegnerin und Beigeladener konnten keine Einigung über die Zuständigkeit zur Kostentragung erzielen.

Am 28.03.2007 schloss der Antragsteller, vertreten durch seine Eltern, mit Wirkung vom 22.03.2007 mit dem Einrichtungsträger einen Heimvertrag auf unbestimmte Zeit.

Durch Bescheid vom 09.05.2007 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag ab. Nach sozialhilferechtlichen Vorschriften habe er in Deutschland keinen gewöhnlichen Aufenthalt, woran auch die “pro forma„ vorgenommene Anmeldung vom 01.03.2007 nichts ändere. Für Leistungen an stationär untergebrachten Personen sei der Leistungsträger zuständig, in dessen Bereich sich die untergebrachte Person zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung oder in den letzten 2 Monaten davor gewöhnlich aufgehalten habe. Wenn ein derartiger gewöhnlicher Aufenthalt nicht feststellbar sei, falle die Leistungsgewährung in die Zuständigkeit des Leistungsträgers am tatsächlichen Aufenthaltsort. Die Weiterleitung des Antrages im Sinne einer zügigen Bearbeitung sei an der ablehnenden Haltung des zuständigen Trägers, dem Beigeladenen, gescheitert.

Hiergegen legte der Antragsteller am 27.05.2007 Widerspruch ein, den er am 26.07.2007 begründete.

Nachdem der Heimträger den Vater des Antragstellers auf Zahlung von Heimkosten für den Monat Juli 2007 in Höhe von ...

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