Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Pflicht zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente erst ab Vollendung des 63. Lebensjahrs. Übergang der Antragsbefugnis auf den Grundsicherungsträger. Ermessensausübung. Ermessenszweck. Berücksichtigung von Unbilligkeitsgesichtspunkten

 

Leitsatz (amtlich)

Zweck des in § 5 Abs 3 SGB 2 eingeräumten Ermessens ist nicht, die Grundsicherungsträger typische Folgen des Leistungsausschlusses für Altersrentner nach § 7 Abs 4 S 1 SGB 2 abwägen zu lassen.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 23.06.2016; Aktenzeichen B 14 AS 46/15 R)

 

Tenor

1. Der Bescheid des Beklagten vom 29.07.2013 sowie der Bescheid vom 21.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2013 werden aufgehoben, soweit die Klägerin zur Beantragung einer Altersrente mit Rentenbeginn vor dem 01.02.2014 aufgefordert wird.

2. Der Beklagte wird verpflichtet, seinen Rentenantrag vom 04.12.2013 für die Klägerin gegenüber der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland auf die Zeit ab 01.02.2014 zu beschränken.

3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

4. Der Beklagte hat die Hälfte der notwendigen Auslagen der Klägerin zu erstatten.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Beklagte die Klägerin zu Recht zur Beantragung vorzeitiger Altersrente aufgefordert und Altersrente für die Klägerin beantragt hat.

Die 1951 geborene, erwerbsfähige Klägerin wohnt in A... Sie verfügt außer einem sogenannten Minijob als Reinigungskraft mit monatlich schwankendem Entgelt zwischen 100,- € und 150,- € brutto seit Jahren über kein weiteres Einkommen und bezieht daher mangels einzusetzenden Vermögens laufend Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II beim Beklagten. Zuletzt bewilligte ihr der Beklagte u. a. mit Bescheid vom 09.11.2012 für die Zeit vom 01.12.2012 bis 31.05.2013 (vorläufig) monatlich 659,60 € (Bl. 483 BA), mit Bescheid vom 17.04.2013 für die Zeit vom 01.06.2013 bis 30.11.2013 (vorläufig) monatlich 667,79 € (Bl. 544 BA) und mit Bescheid vom 21.10.2013 für die Zeit vom 01.12.2013 bis 31.05.2013 (vorläufig) 662,99 € Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II (Bl. 606 BA) bei einem Bedarf der Klägerin von zuletzt 691,79 €. Daneben ergingen zahlreiche jeweils als Änderungsbescheide bezeichnete Bescheide, mit denen der Beklagte das genaue tatsächliche Einkommen berücksichtigte; zu jenen führt die Klägerin derzeit Klageverfahren mit dem Ziel der vollen Berücksichtigung ihrer Kosten der Unterkunft und Heizung.

Mit Schreiben vom 17.04.2013 bat der Beklagte die Klägerin um Vorlage einer Bescheinigung ihres zuständigen Rentenversicherungsträgers über den Zeitpunkt frühesten ungeminderten Altersrentenbezuges (Bl. 546 BA). Die Klägerin reichte hierauf die Bescheinigung der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland ein, wonach sie ohne Abschläge frühestens ab 01.02.2016 und auf Antrag mit Abschlägen frühestens ab 01.02.2011 Altersrente beziehen könne (Bl. 547 BA).

Der Beklagte forderte die Klägerin hierauf erstmals mit Bescheid vom 29.07.2013 unter Fristsetzung zum 22.08.2013 auf, gemäß § 12 a Satz 1 SGB II bei der DRV Mitteldeutschland Altersrente zu beantragen. Auf den Widerspruch der Klägerin vom 02.08.2013, mit dem diese geltend machte, bei regulärem Renteneintritt dauerhaft ohne Grundsicherungsleistungen auskommen zu können (Bl. 559 BA), ersuchte der Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 01.11.2013 um Nachweise zur voraussichtlichen Rentenhöhe bei vorzeitigem und bei regulärem Rentenbeginn (Bl. 610 BA). Die Klägerin reichte hierauf Rentenauskünfte der DRV Mitteldeutschland für einen Rentenbeginn ab 01.02.2014 - monatlich brutto 679,02 € Altersrente, entsprechend einem Abschlag von 7,2 % aus 24 Monaten vorzeitiger Inanspruchnahme - und für den regulären Rentenbeginn 01.02.2016 - monatlich brutto 730,39 € - beim Beklagten ein (Bl. 611 ff. BA).

Zuvor hatte der Beklagte mit weiterem Bescheid vom 21.10.2013 unter Fristsetzung zum 14.11.2013 erneut zur Beantragung von Altersrente aufgefordert (Bl. 609 BA). Hiergegen legte die Klägerin am 13.11.2013 Widerspruch ein (Bl. 615 BA) und machte wiederum geltend, erst durch den vorzeitigen Rentenbezug künftig dauerhaft auf Grundsicherungsleistungen angewiesen zu sein.

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.12.2013 wies der Beklagte die Widersprüche als unbegründet zurück (Bl. 619 ff. BA). Der aktuelle Grundsicherungsbedarf der Klägerin von 691,79 € könne auch mit abschlagsfreier Rente von voraussichtlich 655,53 € monatlich nicht vollständig gedeckt werden. Die Klägerin sei daher auch bei ungekürzter Altersrente weiterhin auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen. Angesichts des absoluten Nachrangs von Grundsicherungsleistungen sei die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente für die Klägerin nicht unzumutbar und entspreche dem Willen des Gesetzgebers.

Bereits mit Schreiben vom 04.12.2013 beantragte der Beklagte bei der DRV Mitteldeutschland für die Klägerin Altersrente ohne nähere Befristung und meldete zugleich einen Erstattungsanspruch nach §§ 102 ff. SGB X an (Bl. 629 BA). Ein R...

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