Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an den Nachweis des vollständig aufgehobenen Leistungsvermögens des Versicherten zur Verurteilung des Rentenversicherungsträgers zur Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung durch das Sozialgericht
Orientierungssatz
1. Eine sozialgerichtliche Leistungsklage kann aus prozessualer Sicht nur dann erfolgreich sein, wenn das Gericht die für den jeweiligen Anspruch maßgeblichen Tatbestandsmerkmale mit Vollbeweis feststellen kann.
2. Dementsprechend ist es für die Verurteilung des Rentenversicherungsträgers zur Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB 6 erforderlich, dass das Gericht das aufgehobene Leistungsvermögen des Klägers mit dem Maß des Vollbeweises feststellen kann.
3. Bestätigen die vom Gericht eingeholten ärztlichen Befundberichte und veranlassten Sachverständigengutachten nicht das aufgehobene Leistungsvermögen des Versicherten, so ist die erhobene Klage abzuweisen.
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten vor dem Sozialgericht im Rahmen der Gesetzlichen Rentenversicherung nach dem Sozialgesetzbuch VI (SGB VI) um eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.
II.
Der am … geborene - somit heute …jährige - Kläger bezieht wegen der Folgen eines Verkehrs- bzw. Wegeunfalls (1991) schon seit Jahren eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Zuletzt war er als Sachbearbeiter in der Werkzeugplanung versicherungspflichtig beschäftigt (Arbeitsunfähigkeit bzw. Arbeitslosigkeit seit November 2018). Der Behinderungsgrad (GdB) beträgt aktuell 90 (mit Merkzeichen G).
Der zuletzt gestellte Antrag auf Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ist erfolglos geblieben (Bescheid vom 18.4.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4.12.2020): Denn die Erwerbsfähigkeit des Klägers in dem oben angeführten Bezugsberuf sei nicht erheblich gefährdet oder gemindert (vgl. hierzu das fachorthopädischen Gutachten von Dr. … vom 10.1.2020).
Im Herbst 2019 nahm der Kläger an einem stationären Heilverfahren in Bad … teil. Nach Auffassung der behandelnden Ärzte ergab sich aufgrund der Diagnosen
· Polytrauma bei Verkehrsunfall (1991) mit intraabdominalen Verletzungen und Thoraxtrauma und Langzeitbeatmung,
· Rippenserienfraktur rechts mit Spannungspneumothorax,
· mittelschwere restriktive Ventilationsstörung und OSAS,
· Unterarmfraktur rechts mit Defektsituation und Bewegungseinschränkung,
· traumatische Nervusulnaris- und Nervusradialis-Parese rechts,
· kognitive Störungen nach wochenlangem Koma mit Anpassungsstörung,
· Diabetes mellitus Typ 2 (medikamentös eingestellt) sowie
· arterielle Hypertonie
sowohl für die letzte berufliche Tätigkeit des Klägers als Sachbearbeiter, als auch für sonstige Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts nur noch ein unterdreistündiges Leistungsvermögen. In der abschließenden sozialmedizinischen Epi-Krise des Reha-Abschlussberichts hieß es jedoch, die Entlassung erfolge wegen der noch bestehenden Schmerzen sowie der psychischen Lage als zunächst arbeitsunfähig, denn der Heilungsverlauf der Unfallfolgen sei noch nicht abgeschlossen, eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit sei noch nicht absehbar. Aus dem dokumentierten Aufnahmebefund ergab sich internistischerseits jedoch ein altersentsprechender Befund, zudem bestand kein Anhalt für eine psychische Störung.
III.
Am 17.2.2020 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Bewilligung eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Diesen Antrag lehnte die Beklagte mitBescheid vom 5.3.2020 ab: Der Kläger habe weiterhin einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bestehe jedoch nicht, denn der Kläger könne trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch einer geregelten Erwerbstätigkeit in einem Zeitumfang von wenigstens sechs Stunden täglich nachgehen.
IV.
Gegen diese Entscheidung erhob der Kläger am1.4.2020 Widerspruch : Die Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand sei massiv, diejenige der linken Hand erheblich eingeschränkt. Darüberhinaus leide er unter multiplen degenerativen Veränderungen im Bereich der Extremitäten und der Wirbelsäule, welche mit ständigen Schmerzen verbunden seien. Hinzu kämen seine psychiatrischen Beeinträchtigungen (Depressionen mit Stimmungstiefs, Schlafstörungen sowie Merk- und Konzentrationsstörung und Erschöpfungssymptomatik). Somit sei er nicht mehr in der Lage erwerbstätig zu sein. Dies sei durch das Heilverfahren in Bad-…bestätigt worden.
Der Widerspruch ist jedoch erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 4.12.2020 ): Auch der Widerspruchsausschuss sei davon überzeugt, dass der Kläger trotz seiner Gesundheitsstörungen
· achsengerecht ausgeheilter Unterarmbruch rechts mit partieller Ulnarisparese und Radialisparese,
· Folgen einer Kahnbeinfraktur mit Osteosynthese rechts,
· Ulnarisimpaktsyndrom links mit belastungsabhängiger Schmerz- und Rei...