Nachgehend

BSG (Urteil vom 10.11.2022; Aktenzeichen B 1 KR 21/21 R)

 

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I.

Die Beteiligten streiten im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Sozialgesetzbuch V (SGB V) um die Beantwortung der Frage, ob der Kläger die Versorgung mit einem Cannabis-Präparat beanspruchen kann.

II.

Der am … - somit heute … - Kläger stammt aus der … und lebt schon seit seinem zweiten Lebensjahr im Bundesgebiet. Wegen erheblicher persönlicher bzw. familiärer Schwierigkeiten bestand in der Vorgeschichte eine Alkohol- und Drogenproblematik. Zudem leidet der Kläger an Epilepsie. Seit August 2018 bezieht er eine Rente wegen Erwerbsminderung. Zuvor war er als „Tagesvater“, „hauswirtschaftliche Assistent“ und „spiritueller Heiler“ tätig.

III.

Am 20.3.2017 ging bei der Beklagten ein „Arztfragebogen zu Cannabinoiden nach § 31 Abs. 6 SGB V“ ein (…). Mit Schreiben vom 24.3.2017 informierte die Beklagte den Kläger sodann über die gutachterliche Einschaltung des … .

In seinem diesbezüglichen sozialmedizinischen Gutachten vom 4.4.2017 verneinte der … bei den Diagnosen „Epilepsie und Depression“ einen Versorgungsanspruch mit einem Cannabis-Präparat (Bedrocan). Im Hinblick auf das Anfallsleiden könne zwar von einer schwerwiegenden Erkrankung ausgegangen werden. Allerdings könne die Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes (…), dass hierfür keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Therapiealternative zur Verfügung stehe, nicht nachvollzogen werden. Denn nach den Unterlagen der Kasse habe der Kläger seit 2012 lediglich Verordnungen über zwei Anti-Epilektika (und einmalig ein Benzodaizepin) erhalten. Eines dieser Medikamente sei zudem nur kurzfristig eingesetzt worden. Für die medikamentöse Behandlung einer Epilepsie stünden jedoch eine Reihe von weiteren Arzneimittelwirkstoffen zur Verfügung, die leitliniengerecht eingesetzt werden könnten. Somit lägen die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Versorgung mit Cannabis nicht vor.

Daraufhin teilte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 20.4.2017 mit, aufgrund der Ausführungen des … habe er keinen Anspruch auf die Versorgung mit dem Arzneimittel Bedrocan (Cannabisblüten).

IV.

Gegen diese Entscheidung erhob der Kläger am 15.5.2017 Widerspruch und stützte sich dabei auf einen fachärztlichen Befundbericht von … …. Trotz der stationären Behandlung in der … (…) und einer adäquaten und intensiven Therapie sei bislang keine anhaltende Stabilität erreicht worden. Zudem sei das Krankheitsbild des Klägers (Epilepsie, rezidivierende depressive Störung, kombinierte Persönlichkeitsstörung) mittlerweile vom Versorgungsamt als schwere Behinderung mit den Merkzeichen B und G anerkannt worden. Aufgrund der epileptischen Anfallsfrequenz sowie der vorliegenden Depression sei eine Erweiterung der Therapie mit Cannabisblüten geplant. Unter probatorischer Selbstmedikation mit Cannabis habe sich nämlich eine deutliche Frequenzreduktion, bis hin zur Anfallsfreiheit sowie eine erhebliche Besserung der ängstlich-depressiven Symptomatik gezeigt. Deshalb könne die Einschätzung des … nicht überzeugen, zumal der Kläger weitere Anti-Epileptika, nämlich unter anderem Carbamazepin, Gabapentin und Valproinsäure, ausprobiert habe (vgl. auch den weiteren ergänzenden Befundbericht vom 26.6.2017).

In dem neuerlichen sozialmedizinischen Gutachten vom 4.4.2017 bekräftigte der … seine bisherige Einschätzung, so dass der Widerspruch erfolglos geblieben ist (Widerspruchsbescheid vom 30.8.2017).

V.

Am 18.9.2017 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht erhoben: Entgegen der Auffassung des … habe er leitliniengerecht vielfältige medikamentöse Behandlungsversuche unternommen und (seit 2006) neben den bereits erwähnten Präparaten auch noch die Arzneimittel Oxcarbazepin und Levetiracetam eingenommen. Da es jedoch zu Nebenwirkungen gekommen sei bzw. die Präparate nicht die gewünschten Wirkungen gebracht hätten, habe er die medikamentöse Behandlung abgebrochen, zumal im Epilepsiezentrum ... eine erhöhte Medikamenten-empfindlichkeit festgestellt worden sei. Im Gegensatz hierzu habe er bei dem eigenmächtigen Einsatz von Cannabis-Blütenextrakten keinerlei Nebenwirkungen erlitten, auch habe er die sonstige Medikation verringern können. Deshalb halte er die Versorgung mit Cannabis vorliegend für medizinisch geboten und mache einen entsprechenden Sachleistungsanspruch geltend. Zum Schluss (November 2018) legt der Kläger zum Ergebnis der vom Gericht veranlassten Begutachtung eine Stellungnahme von … vor und macht darauf aufmerksam, dass die zuständigen US-Behörden zwischenzeitlich erstmals ein medizinisches Marihuana-Derivat zugelassen hätten. Auch in der Deutschen medizinischen Fachpresse sei im Oktober 2018 im Rahmen eines „Experten-Konsens“ die Wirksamkeit von Cannabinoiden bestätigt worden. Letztlich könne es den betroffenen Patienten nicht abverlangt werden, abzuwarten bis klinische Daten von hoher wissenschaftlicher Evide...

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