Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsärztliche Versorgung. vertragsärztliche Zulassungsentziehung. Begriff des Wohlverhaltens. Voraussetzung aktiver Mitwirkung an der Aufklärung der Verfehlungen sowie der Schadensbegrenzung und Schadensregulierung. Recht zur freien Bewertung des Umfangs der Mitwirkung durch Zulassungsgremien und Gerichte

 

Leitsatz (amtlich)

"Wohlverhalten" setzt, um eine vertragsärztliche Zulassungsentziehung zu vermeiden, mehr voraus, als lediglich keine weiteren Pflichtverstöße zu begehen. Der Vertragsarzt muss aktiv an der Aufklärung der Verfehlungen, der Schadensbegrenzung und Schadensregulierung mitwirken. Überlässt es der Vertragsarzt den Zulassungs- und Prüfgremien sowie der Kassenärztlichen Vereinigung, den Schaden allein im Rahmen deren Amtsermittlungspflicht festzustellen, so fehlt es an einem „Wohlverhalten“. Soweit der Vertragsarzt in die Lage gerät, sich auch im Hinblick auf laufende Strafverfahren selbst zu beschuldigen, steht es ihm frei zu entscheiden, in welchem Umfang er mitwirkt. Die Zulassungsgremien und Gerichte können aber sein Mitwirken unabhängig davon frei bewerten.

 

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger hat die Gerichtskosten und die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu tragen. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten.

3. Der Streitwert wird auf 1.519.426,80 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um eine Entziehung der vertragsärztlichen Zulassung wegen gröblicher Verletzung der vertragsärztlichen Pflichten.

Der Kläger ist als Facharzt für Allgemeinmedizin seit 01.04.2004 zur vertragsärztlichen Versorgung mit Praxissitz in A-Stadt zugelassen. Seit dem 01.09.2008 ist er mit Herrn C., Facharzt für Innere Medizin im hausärztlichen Versorgungsbereich, in einer Berufsausübungsgemeinschaft (BAG) tätig.

Die Beigeladene zu 1) setzte aufgrund implausibler Abrechnung in den Quartalen I bis III/08 in Bezug auf die Tätigkeit im Ärztlichen Bereitschaftsdienst gegen den Kläger eine Honorarrückforderung in Höhe von 70.813,85 € fest. SG Marburg, Urteil v. 21.07.2017 - S 16 KA 446/14 - hob die Honorarrückforderung für das Quartal II/08 (25.567,50 €) auf und wies im Übrigen die Klage ab (Berufung anhängig: LSG Hessen - L 4 KA 46/17). Die Beigeladene zu 1) setzte für die Quartale IV/08 bis IV/10 in Bezug auf die Tätigkeit des Klägers im Ärztlichen Bereitschaftsdienst eine weitere Honorarrückforderung in Höhe von 651.035,66 € fest, die sie mit Widerspruchsbescheid vom 01.07.2015 auf 320.921,98 € netto reduzierte. SG Marburg, Urteil v. 21.07.2017 - S 16 KA 362/15 - wies die Klage ab (Berufung anhängig: LSG Hessen - L 4 KA 47/17).

Die Beigeladene zu 1) setzte aufgrund implausibler Abrechnung in den Quartalen I/09 bis IV/10 gegen die BAG des Klägers eine Honorarrückforderung in Höhe von 538.739,39 € fest. In der mündlichen Verhandlung zum Aktenzeichen S 16 KA 447/14 vor der 16. Kammer des SG Marburg verglichen sich die Beteiligten auf eine reduzierte Rückforderungssumme in Höhe von 363.044,04 €. Hintergrund war, dass die Beigeladene zu 1) einen Weiterbildungsassistenten nicht hinreichend berücksichtigt hatte. Die Klage gegen die Rückforderung gegenüber der BAG aus einer zeitbezogenen Plausibilitätsprüfung bezüglich der fünf Quartale I/11 bis I/12 in Höhe von 650.509,01 € wies SG Marburg, Gerichtsbescheid vom 06.04.2021 - S 12 KA 18/119 ab (noch nicht rechtskräftig). Über die Rückforderung gegenüber der BAG aus einer Plausibilitätsprüfung bezüglich der sechs Quartale II/12 bis III/13 in Höhe von 147.405,38 € ist ein weiteres Verfahren unter dem Az.: S 12 KA 314/19 anhängig.

Die Beigeladene zu 1) setzte aufgrund einer sachlich-rechnerischen Honorarberichtigung wegen implausibler Honorarabrechnungen in den Quartalen I/11 bis IV/11 in Bezug auf die Tätigkeit des Klägers im Ärztlichen Bereitschaftsdienst (ÄBD D-Stadt bzw. DX-Stadt, ÄBD G-Stadt = E-Stadt und ÄBD A-Stadt) gegen den Kläger eine Honorarrückforderung in Höhe von 73.136,77 € fest. Die hiergegen erhobene Klage wies SG Marburg, Gerichtsbescheid v. 13.02.2019 - S 12 KA 601/17- ab (Berufung anhängig: LSG Hessen - L 4 KA 8/19). Über die Rückforderung aus einer patientenbezogenen und ergänzenden Plausibilitätsprüfungen der ÄBD-Honorarabrechnungen der sieben Quartale I/12 bis III/13 in den ÄBD-Bezirken D-Stadt, A-Stadt - mit Ausnahme des Quartals IV/12 - und G-Stadt in Höhe von insgesamt 138.954,72 € ist ein weiteres Verfahren unter dem Az.: S 12 KA 315/19 anhängig.

Die Beigeladene zu 1) beantragte mit Schreiben vom 24.11.2017 die Entziehung der Zulassung des Klägers wegen gröblicher Verletzung der vertragsärztlichen Pflicht. Zur Begründung wies sie auf die Plausibilitätsprüfungen bis zum Quartal IV/10 hin. Bzgl. der Abrechnung in verschiedenen ÄBD-Zentralen in den Quartalen IV/08 bis IV/10 habe in allen ÄBD-Abrechnungen (den ÄBD-Zentralen in A-Stadt, F-Stadt, D-Stadt, G-Stadt, H-Stadt, I-Stadt und J-Stadt) vorsätzlicher Abrechnungsbetrug nachgewiesen werden können. Dies ergebe sich u. a. aus einer unter kein...

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