Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Missbrauch und Misshandlungen in der Kindheit. Härteregelung des § 10a OEG. schädigungsbedingte Schwerbeschädigung. Grad der Schädigungsfolgen. Erforderlichkeit eines GdS von 50. psychisches Trauma. Berücksichtigung des konkreten Lebensverlaufs. Vergleich zu Gewaltopfern mit gebrochenen Biografien. Abwehr eines Exhibitionisten. kein GdB von 30
Leitsatz (amtlich)
1. Wenn eine nicht genau datierbare Schädigung durch Missbrauch und Misshandlung einer 1963 geborenen Antragstellerin in ihrer Kindheit anerkannt ist und die ärztliche Begutachtung einen GdS von 30 ergibt, dann scheitert die Versorgung an § 10a OEG.
2. Ein im Erwachsenenalter und mithin nach 1976 erlittener minderschwerer sexueller Übergriff ist nach traumatisch belasteter Kindheit nicht geeignet, mit einem eigenständigen GdS von 30 doch noch eine Versorgung zu begründen.
Orientierungssatz
Zur Einschätzung des Ausmaßes psychischer Folgen von Traumatisierungen in Kindheit, Jugend oder Erwachsenenalter ist die vergleichende Betrachtung verschiedener biografischer Verläufe nach einer solchen Schädigung unverzichtbar. Insoweit ist im Hinblick auf die Zuerkennung eines Grads der Schädigungsfolgen (GdS) von 50 ein Vergleich zu den Gewaltopfern anzustellen, denen befriedigende und stabile Partnerschaften niemals gelingen, die keine Kinder haben oder bei denen die Erziehung der eigenen Kinder alsbald scheitert, die im "ersten Arbeitsmarkt" nicht auf Dauer Fuß fassen und die mit einer ordnungsgemäßen Haushaltsführung in eigener Wohnung überfordert sind.
Tenor
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 19.01.2012 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 14.01.2013 und des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2014 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig zwischen den Beteiligten ist eine Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Die 1963 geborene Klägerin beantragte am 14.02.2011 eine Versorgung nach dem OEG wegen mehrfacher Gewalterfahrungen u. a. durch ein Sexualdelikt im Sommer 1976. Sie leide deshalb unter einer psychischen Störung, Neuropathie, Psychosen, einer Geh- und Koordinationsstörung, einem körperlichen Zusammenbruch, einer Sehstörung sowie Zittern, Unruhe und Schlafstörung. In der Beklagtenakte findet sich eine ausführliche Schilderung der Klägerin über den Tathergang und über eine insgesamt belastete und traumatisierte Kindheit. In der Akte folgt reichhaltiges medizinisches Material insbesondere aus vorangegangenen Verfahren um eine Rente wegen Erwerbsminderung. Bei der Klägerin ist eine Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe 1 aus vorwiegend psychischen Gründen anerkannt. Die Klägerin ist als schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 90 mit den Merkzeichen G und B anerkannt.
Am 11.01.2012 wurde eine aussagepsychologische Stellungnahme von Dipl.-Psych. C. über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin gefertigt. Das Ergebnis war ein hinreichend sicherer Erlebnisbezug der Aussagen der Klägerin.
Mit Teil-Bescheid vom 19.01.2012 wurde daraufhin anerkannt, dass die Klägerin im Zeitraum von etwa 1969 bis 1979 Opfer von Gewalttaten geworden ist. Zur Erfassung und Bemessung der Schädigungsfolgen wurde ein Gutachten der Psychiaterin Dr. D. eingeholt, das am 04.07.2012 gefertigt wurde. Es gelangte zum Ergebnis
- einer komplexen chronischen posttraumatischen Belastungsstörung im Sinne der Entstehung, zu bewerten mit GdS 40,
- einer undifferenzierten Somatisierungsstörung im Sinne der Entstehung, zu bewerten mit GdS 30,
- rezidivierender depressiver Episoden mit Panikattacken, Beginn etwa 1999, im Sinne einer Verschlimmerung, zu bewerten mit GdS 30,
- einer dissoziativen Bewegungsstörung im Sinne der Entstehung, GdS zu bewerten mit 30.
Unter Einschluss schädigungsunabhängiger Leiden teilte sie einen Grad der Behinderung (GdB) von unverändert 90 mit. Als Gesamt-GdS schlug 50 vor. Dieses Ergebnis fand aber in einer internen nervenärztlichen Stellungnahme der Neurologin und Psychiaterin E. vom 02.11.2011 keine Zustimmung. Sie gelangte zu einem GdS 20.
Auf der Basis dieses Gutachtens (wenn auch davon erheblich abweichend) und der nervenärztlichen Stellungnahme vom 02.11.2012 erging am 28.11.2012 ein Bescheid, der als Schädigungsfolge anerkannte "Teilsymptome einer posttraumatischen Belastungsstörung und Persönlichkeitsstörung", den GdS mit 20 festsetzte und eine Versorgungsrente dementsprechend verweigerte.
Hiergegen erhob die Klägerin am 04.12.2012 ausführlich Widerspruch. Mit Teilabhilfebescheid vom 14.01.2013 wurden weitere Tatkomplexe anerkannt, hinsichtlich des Leistungsanspruchs jedoch keine Änderungen verfügt. Die Klägerin nahm erneut umfangreich Stellung. Der Widerspruchsbescheid vom 08.04.2014 bestätigte die Bescheide vom 28.11.2012 und 14.01.2013.
Mit der Klage wird weiterhin eine Versorgung aufgrund eines GdS von mindestens 30 begehrt. Das Gericht eröffnete die Beweiserhebung durch Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärz...