Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Inanspruchnahme von Arzneimitteln im Rahmen des "off-label-use". verfassungsunmittelbarer Leistungsanspruch des Versicherten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Entgegen BSG (Entscheidung vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R = BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6, bestätigt durch BSG vom 11.9.2018 - B 1 KR 36/17 R - juris RdNr 14) besteht auch im "off-label use" von Medikamenten ein verfassungsunmittelbarer - subjektiver-rechtlicher - Leistungsanspruch, wenn vom BVerfG vorgegebenen Voraussetzungen (vgl BVerfG vom 6.12.2005 - 1 BvR 347/98 = BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 und vom 10.11.2015 - 1 BvR 2056/12 = BVerfGE 140, 229 = SozR 4-2500 § 92 Nr 18 und vom 11.4.2017 - 1 BvR 452/17 = SozR 4-2500 § 137c Nr 8) erfüllt sind (Anschluss an Kammerurteil vom 29.6.2017 - S 15 KR 1793/15 -, juris).

2. Der institutionalisierte (objektiv-rechtliche) Gesundheits- und Grundrechtsschutz, wie ihn das Arzneimittelzulassungsrecht gewährt, kann die subjektiv-rechtlichen Verfassungsgarantien des Leistungsempfängers weder aushebeln noch können die beiden Ausprägungen des Grundrechtsschutzes gegeneinander ausgespielt werden.

 

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 06.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.01.2018 verurteilt, die bereits von der verstorbenen Klägerin beglichenen Kosten für die seit dem 12.07.2017 bis zum 09.03.2018 mit Privatrezept verordneten Avastin-Präparate in Höhe von insgesamt 43.115,40 € zu erstatten.

II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

 

Tatbestand

Streitig ist die Erstattung von Avastin-Rezepten in Höhe von 43.115,40 €.

Die 1956 geborene A. (nunmehr: Versicherte) war bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert und erkrankte an einem Hirntumor. Sie verstarb 2018. Ihr Ehemann und Alleinerbe (vergleiche Schriftsatz das Amtsgericht München vom 24.07.2018, Bl. 271 der Gerichtsakte) führt den Rechtsstreit als Rechtsnachfolger fort. Er lebte mit der Versicherten zum Zeitpunkt ihres Todes in einem gemeinsamen Haushalt.

Das MVZ MOP (Zentrum für onkologische Diagnostik und Therapie) beantragte am 05.09.2017 für die Versicherte die Kostenübernahme für einen Off-Label-Therapieversuch mit Avastin bei Glioblastom. Die Klägerin habe sich seit dem 12.07.2017 Avastin selbst besorgt bei deutlicher klinischer und morphologischer Besserung. Dies decke sich mit der Erfahrung der Praxis, dass bestimmte Patienten mit hoher Tumoraktivität und negativem MGMT-Status von dieser Therapie profitieren würden, was allerdings in den einschlägigen Studien bei fehlender Differenzierung und erheblichen administrativen Mängeln nicht klar habe belegt werden können. Die Praxis plädiere daher nach Selbstfinanzierung eines Therapieversuchs für eine GKV-finanzierte Fortsetzung unter strenger Effektkontrolle.

Gemäß radiologischem Befundbericht vom 29.08.2017 zeigte sich nach dreimaliger Applikation von Avastin eine Befundverbesserung.

Mit Bescheid vom 06.09.2017 wurde der Antrag abgelehnt. Das Bundessozialgericht habe mit Urteil vom 13.12.2016 (B 1 KR 10/16 R) entschieden, dass gesetzliche Krankenkassen für Arzneimittel nicht zur Sachleistung verpflichtet seien, wenn für das beantragte Arzneimittel eine ablehnende Zulassungsentscheidung durch die Arzneimittelbehörden vorliegen würde. Die europäische Zulassungsbehörde EMA habe die Zulassung von Avastin zur Behandlung von Glioblastomen bereits mehrfach abgelehnt. Auch § 2 Abs. 1a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) würde zu keiner anderen Entscheidung führen, da auch einem hieraus abgeleiteten Anspruch die Entscheidung der Arzneimittelzulassungsbehörde entgegenstehen würde.

Nach Widerspruch vom 29.09.2017 beschrieb die Versicherte mit Schreiben vom 29.11.2017 ihre Krankheitsgeschichte. Sie habe im Mai 2017 als austherapiert gegolten und sei als Palliativpatientin nach Hause entlassen worden. Die statistische Überlebensprognose habe 8-12 Wochen betragen. Sie sei damals gehunfähig, vollkommen auf Hilfe Dritter und geistig verwirrt gewesen und habe gedacht, dass sie bald sterben müsse. Auf Onkologie spezialisierte Kollegen ihres Mannes hätten sodann auf die Behandlungsmöglichkeit mit Avastin hingewiesen. Hierzu habe sie sich dann entschlossen, da ihr versichert worden sei, dass alle anderen anerkannten Therapien austherapiert seien. Ihr Zustand habe sich mit jeder Infusion merklich verbessert. Nach acht Infusionen sei es ihr subjektiv und objektiv bessergegangen, so dass sie alleine die Toilette habe benutzen können und mit ihrem Mann und den Kindern in Italien gewesen sei, um dort ihre Familienangehörigen zu sehen. Auch habe sie wieder am allgemeinen Leben teilnehmen und wieder Bücher lesen können. Sechs Monate nach der Entlassung als Palliativpatientin habe sie sich wieder im vorgestellt, das den unerwarteten Therapieerfolg bestätigt habe. Dort sei auch empfohlen worden, die Therapie fortzusetzen. Die Behandlung mit Avastin habe daher zu einer deutlichen Verlängerung der Lebenszeit und einer signifikan...

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