Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Versorgung. Wirtschaftlichkeitsprüfung. unzulässige Verordnung von Arzneimitteln. Unwirtschaftlichkeit. Anwendbarkeit der Differenzberechnung nach § 106b Abs 2a SGB V vor Änderung der Rahmenvorgaben. Verdrängung des normativen Schadensbegriffs
Leitsatz (amtlich)
1. Die Differenzberechnung nach § 106b Abs 2a SGB V (Nachforderungen nach Abs 1 S 2 sind auf die Differenz der Kosten zwischen der wirtschaftlichen und der tatsächlich ärztlich verordneten Leistung zu begrenzen) ist für die Quartale vor der Änderung der Rahmenvorgaben (Beschluss des Bundesschiedsamtes vom 10.5.2022) auch auf die unzulässige Verordnung von Arzneimitteln anzuwenden (SG München vom 5.5.2022 - S 49 KA 139/21; aA SG Stuttgart vom 2.6.2021 - S 4 KA 3885/20).
2. Unzulässige Verordnungen sind im weitesten Sinne unwirtschaftlich (BSG vom 11.12.2019 - B 6 KA 23/18 R = SozR 4-2500 § 106 Nr 62). Maßgeblich ist der Wortlaut von § 106b Abs 2a SGB V.
3. Der normative Schadensbegriff, der auch im Vertragsarztrecht gilt (BSG vom 21.6.1995 - 6 RKa 60/94 = BSGE 76, 153 = SozR 3-2500 § 95 Nr 5 mwN; LSG Essen vom 30.7.2003 - L 11 KA 116/01) wird verdrängt von der gesetzlichen Regelung des § 106b Abs 2 S 1 SGB V und den für die Quartale 3/19 und 4/19 geltenden Rahmenvorgaben.
Nachgehend
Tenor
I. Die Klagen werden abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten der Verfahren.
III. Die Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin, eine gesetzliche Krankenkasse begehrte die Aufhebung der Entscheidungen der Prüfungsstelle Ärzte Bayern vom 14.07.2021 und 18.08.2021. Den Anträgen der
Klägerin wurde nur teilweise stattgegeben, nämlich durch Festsetzung eines Nachforderungsbetrages in Höhe von 197,64 € (Quartal 3/19) bzw. in Höhe von 559,62 € (Quartal 4/19). Die beigeladene D. (Beigeladene zu 2 = ) verordnete im Quartal 3/19 Spasmo Mucosolvan Saft über 265,68 € und im Quartal 4/19 über 675,24 €. Zur Begründung führte die Prüfungsstelle aus, das Medikament sei nicht zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verordnungsfähig. Allerdings sei die Kostendifferenz nach § 106b Abs. 2a SGB V zu berücksichtigen (anzurechnender Anteil des Wirkstoffs im Durchschnitt der vier günstigsten Arzneimittel Ambroxol 30 mg/5 ml Saft bzw. Ambroxol 100 mg/200 mg). Die Differenz betrage 68,04 € im Quartal 3/19 und im Quartal 4/19 115,63 €.
Dagegen legte die Klägerin Klage zum Sozialgericht München ein. Sie führte aus, die Differenzberechnung sei nicht auf Verordnungen von Arzneimitteln anwendbar, die von vornherein unzulässig seien. Nicht verordnungsfähige und unzulässige Arzneimittel könnten niemals wirtschaftlich(er) sein. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 11.12.2019, Az B 6 KA 23/18 R, Rn. 27) sei eine Abgrenzung zwischen unzulässigen und unwirtschaftlichen Arzneimitteln vorzunehmen. Es gebe keinen Raum für ein Ermessen. Auch der im Zivilrecht geltende Grundsatz über den "Vorteilsausgleich" sei hier nicht anwendbar; insbesondere dann nicht, wenn ein sogenannter Basismangel vorliege. Es werde die Auffassung vertreten, die Rahmenvorgaben nach § 106b Abs. 2 SGB V seien rechtswidrig, wenn nicht sogar nichtig.
Deshalb habe man die Rahmenvorgaben auch gekündigt. Im Übrigen gingen sämtliche Regelungen über den Ausschluss der Leistungspflicht der GKV ins Leere, wenn bei einem solchen Verstoß kein vollständiger Regress bzw. keine vollständige Nachforderung erfolgen würde. Der Vergleich eines Mehrbetrages setze außerdem gleichartige verordnungsfähige Leistungen voraus. Bei nicht zugelassenen Arzneimitteln könne eine solche Umsetzung nicht erfolgen, ohne die Therapieentscheidung des verordnenden Arztes zu ändern, dergestalt, dass sie durch eine eigene Mutmaßung der Prüfungsstelle ersetzt würde. Auch gerade weil das gegengerechnete Arzneimittel nicht verordnet worden sei, könne dieses auch nicht zu Lasten der GKV abgerechnet werden. Es sei ferner nicht
erkennbar, warum die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum "normativen Schaden" nicht anwendbar sein sollte. Die Klägerin stütze sich auf die Regelung in § 106b Abs. 2a S. 2 SGB V. Dort seien Einsparungen im Zusammenhang mit unzulässigen Verordnungen erwähnt. Hinzuweisen sei zudem auf die Kommentarliteratur. Danach werde die Auffassung vertreten, dass einiges für eine einschränkende Auslegung des § 106b Abs. 2a SGB V spreche und die Differenzmethode nicht für unzulässige Verordnungen entgelte. Die Sichtweise der Klägerin werde auch durch eine Entscheidung des Sozialgerichts Stuttgart bestätigt (SG Stuttgart, Urteil vom 02.06.2021, Az S 4 KA 3885/20 Rn. 32). Das Gericht habe in der zitierten Entscheidung die Auffassung vertreten, für die Krankenkassen bestehe keine Zahlungspflicht - auch nicht zu einem gewissen Teil, wenn ein Vertragsarzt die Regeln des vertragsärztlichen Systems nicht eingehalten habe. Im Übrigen seien die Rahmenvorgaben mittlerweile zu Gu...