Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsärztliche Versorgung. Bekanntgabe von Richtgrößenvereinbarungen erst nach Jahresbeginn. echte Rückwirkung. Nichtgeltung von Ausnahmetatbeständen

 

Orientierungssatz

1. Das Rechtsstaatsgebot des Art 20 Abs 3 Grundgesetz (GG) erfordert, dass Richtgrößenvereinbarungen bekannt gemacht werden (vgl ua BSG vom 17.9.1997 - 6 RKa 36/97 = BSGE 81, 86, 90 = SozR 3-2500, § 87 Nr 18).

2. Richtgrößen, die erst nach Jahresbeginn bekannt gemacht werden, entfalten Rückwirkung. Dabei handelt sich um eine echte Rückwirkung, die unzulässig ist (vgl BSG vom 2.11.2005 - B 6 KA 63/04 R = BSGE 95, 199 = SozR 4-2500 § 106 Nr 11).

3. Die allgemein im Zusammenhang mit rückwirkenden Regelungen aufgestellten Ausnahmetatbestände gelten nicht für rückwirkende Richtgrößenvereinbarungen.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 23.03.2011; Aktenzeichen B 6 KA 9/10 R)

 

Tatbestand

Der Kläger ist praktischer Arzt und verfügt über die Zusatzbezeichnung "Naturheilverfahren". Ihm wurde das Zusatzbudget "Allergologie" zuerkannt.

Die Klage richtet sich gegen den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 1.6.2006. Die Prüfungsausschüsse unterzogen den Kläger für das Jahr 2002 einer Prüfung nach Maßgabe der damals geltenden Richtlinienvereinbarung und setzten für das Jahr 2002 einen Regress über 40.734,70 Euro fest.

In den Jahren 1999, 2000 und 2001 galten bereits Richtgrößen für die Verordnung von Arzneimitteln.

Mit Rundschreiben der Beigeladenen zu 1) vom 20.8.2001 wandte sich diese an die Vertragsärzte in Bayern und übersandte diesen eine Richtgrößentrendmeldung über die Arzneimittelkosten im 1. Quartal 2001. Gleichzeitig informierte die Beigeladene zu 1) über die weitere Entwicklung im Jahr 2002. Sie führte u.a. wie folgt aus: "Für das Jahr 2002 streben wir Richtgrößen an, die das Alter der Patienten und weitere versorgungsrelevante Komponenten besser als bisher berücksichtigen. Die Informationen über ihre Arzneimittelkosten sollen künftig aktueller, moderner und aussagekräftiger sein. Dazu benötigen wir allerdings die Kooperation der Krankenkassen."

Ende 2001 (Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz (ABAG) vom 19.12.2001) wurde § 84 SGB V geändert. Es wurde eine Frist zum Abschluss der Richtgrößenvereinbarung für das Jahr 2002 bis 31.3. gesetzlich vorgegeben. Andernfalls habe das Schiedsamt den Vertragsinhalt innerhalb von zwei Monaten nach Ablauf dieser Frist gemäß Art. 3 a ABAG festzusetzen. Das ABAG wurde im BGBl. I S. 3773 vom 21.12.2001 veröffentlicht.

Mit Rundschreiben vom 2.5.2002 wandte sich die Beigeladene zu 1) an die Vertragsärzte unter dem Betreff "das Arzneimittel-Programm der KVB: Teilnahme lohnt sich!". In diesem Schreiben war die Rede davon, die KVB habe ein bundesweit einmaliges Arzeimittel-Programm mit dem Ziel einer bedarfsgerechten und wirtschaftlichen Verordnungsweise - ohne Qualitätseinbußen für die Patientinnen und Patienten - entworfen. Für alle, die sich am Arzneimittel-Programm beteiligen würden, werde für 1999 und 2000 sowie für die Dauer der Teilnahme auf Regresse verzichtet. Auf Seite 2 des Schreibens findet sich die Überschrift "neue, verfeinerte Richtgrößen". Grundlage für die individuelle Zielvereinbarung seien verfeinerte Richtgrößen, welche einen strukturbedingten Versorgungsbedarf wiederspiegelten. Die neuen Richtgrößen seien in 6 Altersklassen und 36 Fachgruppen untergliedert. Das automatische Herausrechnen von Praxisbesonderheiten laut Anlage 2 der Bundesempfehlung für Richtgrößen ermögliche zukünftig ein angstfreies Verordnen dieser für die Patienten so wichtigen Präparate. Allerdings sei die KVB durch den Rahmenvertrag der KBV mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen vom 31.11.2002 gegen ihren Willen dazu verpflichtet worden, die Höhe der Richtgrößen um 4,39 % gegenüber dem Niveau von 2001 abzusenken. Auf die Anlage 1 wurde hingewiesen. Dort heißt es u.a.: "Die neuen Richtgrößen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, werden uns alle fordern. Die völlig neuartige Struktur sowie insbesondere die Höhe, die wir auf der Basis der ordnungspolitischen Vorgaben absenken mussten, bedeuten für viele von uns eine erhebliche Umstellung."

Mit Rundschreiben vom 21.5.2002 wandte sich die Beigeladene zu 1) unter dem Betreff: "Das Arzneimittel-Programm der KVB: individuelle Zielvereinbarung - Ihre Teilnahme lohnt sich!" abermals an die Vertragsärzte. Dort wurde u.a. ausgeführt, dass die Vertragsärzte die neuen, verfeinerten Richtgrößen erhalten hätten und möglicherweise auch bereits eine Probeberechnung für die jeweilige Praxis durchgeführt hätten. Im Anschluss daran wird ausgeführt: "Mit diesem Schreiben erhalten Sie nun Ihre individuelle Zielvereinbarung. Falls Fragen zur Zielvereinbarung bestünden, werde empfohlen, sich an die Experten an den Hotlines zu wenden. Zusätzlich stünden über Fax-Abruf und im Extranet unter der Rubrik "Arzneimittel-Programm" Informationen zur Verfügung. Das Rundschreiben schließt mit dem Satz: "Machen Sie mit - gemeinsam können wir viel bewegen!"

Dem Klageverfahren war ein Eilverfahren v...

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