Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialverwaltungsrecht: Vernehmung eines Arztes als Zeugen im Verwaltungsverfahren. Voraussetzung der Vernehmung eines Zeugen im Sozialverwaltungsverfahren durch ein Gericht
Orientierungssatz
Eine Vernehmung eines Zeugen im Sozialverwaltungsverfahren durch das Sozialgericht kommt nur dann in Betracht, wenn der Zeuge zuvor neben einer schriftlichen Aussage auch eine Vernehmung durch die Behörde verweigert hat. Die bloße Weigerung zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme durch den Zeugen genügt dagegen zur Anordnung der gerichtlichen Vernehmung noch nicht.
Tenor
Der bei dem Sozialgericht Neuruppin am 05. April 2016 eingegangene Antrag des Antragstellers vom 30. März 2016, den Arzt Herrn Dr. med. X. als Zeugen zu vernehmen, wird abgelehnt.
Gründe
Der bei dem Sozialgericht Neuruppin am 05. April 2016 eingegangene Antrag des Antragstellers vom 30. März 2016, den Arzt Herrn Dr. med. X. als Zeugen zu vernehmen, war abzulehnen, weil die hierfür erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind.
1. Gemäß § 22 Abs 1 S 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) kann die Behörde das für den Wohnsitz des Zeugen zuständige Sozialgericht um die Vernehmung ersuchen, wenn dieser ohne Vorliegen eines der in der Zivilprozessordnung (ZPO) bezeichneten Gründe die Aussage verweigert, zu der er nach § 21 Abs 3 SGB X verpflichtet ist. Nach der letztgenannten Vorschrift besteht für Zeugen eine Pflicht zur Aussage, wenn sie durch Rechtsvorschrift vorgesehen ist. Eine solche Rechtsvorschrift zur Auskunftserteilung hat der Antragsteller zu Recht in § 100 Abs 1 SGB X erblickt. Danach sind Ärzte verpflichtet, auf Verlangen Auskunft zu erteilen, soweit die Auskunft für die Durchführung von Aufgaben des die Auskunft verlangenden Leistungsträgers erforderlich ist, und sie gesetzlich zugelassen ist oder der Betroffene eingewilligt hat.
2. a) Das Vernehmungsersuchen des Antragstellers ist hier indes schon deshalb abzulehnen gewesen, weil Herr Dr. med. X. nicht als Zeuge “die Aussage verweigert„ hat. Zwar ist er als (sachverständiger) Zeuge angegangen worden, da er Angaben zu Tatsachen machen sollte, die er kraft seiner Sachkunde als Arzt wahrgenommen hatte. Das Vernehmungsersuchen scheitert jedoch daran, dass Herr Dr. med. X. die Aussage nicht verweigert hat. Gemäß § 20 Abs 1 SGB X ermittelt die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen und bestimmt dabei Art und Umfang der Ermittlungen. Sie bedient sich der Beweismittel, die sie nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält und kann insbesondere Zeugen vernehmen oder die schriftliche Äußerung von Zeugen einholen (§ 21 Abs 1 Nr 2 SGB X ). Die in § 377 Abs 3 ZPO für das gerichtliche Verfahren vorgesehene Einschränkung von schriftlichen Zeugenaussagen gilt für das Verwaltungsverfahren nicht, da der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme hier nicht anzuwenden ist (vgl Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 08. April 2003 - L 6 SB 552/03 B, RdNr 10 mwN). Diese Freiheit in der Art des Vorgehens gegenüber Zeugen entspricht zugleich dem im Verwaltungsverfahren maßgeblichen Grundsatz der Nichtförmlichkeit (vgl § 9 SGB X ). Im vorliegenden Fall hatte der Antragsteller nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden, den sachverständigen Zeugen entweder zur Vernehmung zu laden oder aber von ihm eine schriftliche Äußerung einzuholen. Selbst erzwingen konnte er beides nicht, weil das Gesetz hierfür keine Handhabe bietet. Zwar besteht für Zeugen gemäß § 21 Abs 3 S 1 SGB X eine Pflicht zur Aussage, wenn sie durch Rechtsvorschrift vorgesehen ist, wobei § 100 Abs 1 SGB X eine solche Rechtsvorschrift - wie bereits erwähnt - darstellt. Anders als § 98 Abs 5 SGB X, der die Auskunftspflicht des Arbeitgebers betrifft, enthält er jedoch keine Ermächtigung, die unberechtigte Zeugnisverweigerung durch die Verhängung einer Geldbuße zu sanktionieren. Der gegebenenfalls notwendige Zwang soll den Gerichten vorbehalten bleiben (vgl Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 08. April 2003 - L 6 SB 552/03 B, RdNr 10 mwN).
b) Die Regelung des § 22 SGB X bietet jedoch - entgegen der Auffassung des Antragstellers und entgegen der Auffassung, die in der von ihm erneut zitierten Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts vom 13. Juli 2004 (L 4 B 61/04 SB) zum Ausdruck kommt - nicht die Möglichkeit, jedwede Art von Ermittlungen, die in dem - nicht abschließenden - Katalog des § 21 Abs 1 SGB X aufgeführt sind, durch Einschaltung des Gerichts zu erzwingen.
Auch wenn Zeugen ihrer Zeugnispflicht nicht nachkommen, lässt § 22 Abs 1 S 1 SGB X die Einschaltung eines Gerichts nicht uneingeschränkt zu. Vorausgesetzt wird vielmehr - ebenso wie in der in Bezug genommenen Vorschrift des § 21 Abs 3 S 1 SGB X auch - die Verweigerung der Aussage. Die Pflicht zur Aussage kann jedoch nur dann verletzt sein, wenn der Zeuge zur mündlichen Vernehmung ordnungsgemäß geladen worden...