Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Grundsicherung für Arbeitsuchende. vorläufige Leistungsbewilligung. keine rückwirkende Korrektur über § 48 SGB 10 nach Ablauf des Bewilligungszeitraums. Sonderregelung des § 67 Abs 4 SGB 2 aus Anlass der COVID-19-Pandemie. Erforderlichkeit einer erneuten Anhörung bei Wechsel der Rechtsgrundlage von § 48 SGB 10 zu § 45 SGB 10
Leitsatz (amtlich)
Auch im zeitlichen Anwendungsbereich des § 67 Abs 4 S 2 SGB II scheidet jedenfalls nach Ablauf des Bewilligungszeitraums eine Korrektur der vorläufig bewilligten Leistungen über § 48 SGB X aus.
Orientierungssatz
Zur Erforderlichkeit einer erneuten Anhörung bzw zu deren Nachholung bei Wechsel der Rechtsgrundlage von § 48 Abs 1 S 2 Nr 2, 3 und 4 SGB 10 zu § 45 SGB 10.
Tenor
Der Bescheid vom 12. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Juni 2021 wird aufgehoben.
Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerinnen zu erstatten.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Aufhebung und Erstattung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) hinsichtlich der Monate Mai bis August und Oktober 2020 streitig.
Die 1975 geborene Klägerin zu 1. ist die Mutter der im November 2010 geborenen Klägerin zu 2. Sie waren zusammen mit der im März 2002 geborenen weiteren Tochter der Klägerin zu 1. unter der im Rubrum ersichtlichen Anschrift wohnhaft. Die Töchter der Klägerin zu 1. hielten sich samstags und sonntags beim Vater in E auf.
Die Klägerin zu 1. stellte am 2. April 2020 einen Leistungsantrag. Dabei gab sie - weiland vollständig - als Einkommen ihr Kindergeld für die Klägerin zu 2. in Höhe von 204 € monatlich und Einkommen der Klägerin zu 2. nach dem Gesetz ≪G≫ zur Sicherung des Unterhalts von Kindern alleinstehender Mütter und Väter durch Unterhaltsvorschüsse oder -ausfalleistungen - Unterhaltsvorschussgesetz - in Höhe von 202 € monatlich. Hinsichtlich der Einkünfte aus einer bislang ausgeübten geringfügigen Erwerbstätigkeit in der Gastronomie gab sie an, derzeit coronabedingt nicht zu arbeiten. Angaben zum zeitweisen Aufenthalt der Töchter beim Vater machte sie indes nicht.
Mit Bescheid vom 23. April 2020 bewilligte der Beklagte den Klägerinnen und der anderen Tochter vorläufig Leistungen in Höhe von insgesamt 1.254,85 € monatlich für den Zeitraum vom 1. Mai bis zum 31. Oktober 2020, wobei wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere der individuellen Ansprüche, auf Seite (S.) 101 fortfolgende (ff.) des Ausdrucks der elektronischen Akte des Beklagten (E-Akte) verwiesen wird. Hinsichtlich der Vorläufigkeit gab der Beklagte an, dass vorerst kein Einkommen aus der Nebentätigkeit berücksichtigt werde, da diese derzeit nicht ausgeübt werde.
Am 13. Mai 2020 schloss die andere Tochter der Klägerin einen Ausbildungsvertrag ab August 2020. Ab 18. Mai 2020 ging sie im künftigen Ausbildungsbetrieb einer Erwerbstätigkeit nach und erhielt jeweils 450 € brutto = netto im Mai und Juni 2020 ausbezahlt.
Mit E-Mail vom 27. Mai 2020 wies das Jobcenter E den Beklagten darauf hin, dass der Vater die Töchter der Klägerin zu 1. temporär in seine Bedarfsgemeinschaft (BG) aufnehme.
Am 4. Juni 2020 teilte die andere Tochter der Klägerin zu 1. die beabsichtigte Aufnahme der Ausbildung mit. Im Nachgang erfuhr der Beklagte aufgrund eines Datenabgleichs von ihrer Erwerbstätigkeit im künftigen Ausbildungsbetrieb.
Am 23. Juli 2020 gingen nach Aufforderung durch den Beklagten Einkommensnachweise, Nachweise zum Ausbildungsverhältnis sowie Nachweise zur temporären BG ein.
Mit Änderungsbescheid vom 3. August 2020 bewilligte der Beklagte der Klägerin zu 1. und der anderen Tochter vorläufig Leistungen in Höhe von insgesamt 771,14 € monatlich für den Zeitraum vom 1. September bis zum 31. Oktober 2020, wobei wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere der individuellen Ansprüche, auf S. 198 ff. E-Akte verwiesen wird. Dabei berücksichtigte er die temporäre BG hinsichtlich der Klägerin zu 2. und die erwartete Ausbildungsvergütung der anderen Tochter der Klägerin zu 1., sodass bei der Klägerin zu 2. kein Leistungsanspruch mehr verblieb.
Im August 2020 erzielte die Klägerin zu 1. Erwerbseinkommen aus ihrer Tätigkeit in der Gastronomie in Höhe von 380 € brutto = netto. Ihre andere Tochter erhielt im selben Monat Ausbildungsvergütung in Höhe von 830 € brutto/710,15 € netto.
Mit Änderungsbescheid vom 29. September 2020 bewilligte der Beklagte für Oktober 2020 vorläufig Leistungen in Höhe von insgesamt 375,68 € monatlich, die vollständig auf die Klägerin zu 1. entfielen, wobei wegen der weiteren Einzelheiten auf S. 244 ff. E-Akte verwiesen wird. Dabei nahm der Beklagte nach einer Mitteilung der Familienkasse vom selben Tag den Zufluss von Kindergeld für die andere Tochter der Klägerin zu 1. in Höhe von 204 € im Oktober 2020 an.
Mit Bescheid vom Folgetag bewilligte die Familienkasse der Klägerin zu 1. Kindergeld für ihre andere Tochter rückwirk...