Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Erfüllung von Sachleistungsansprüchen. Auswahlermessen. Reduzierung auf Null. keine Verletzung der Mitwirkungspflichten seitens des Versicherten. Verstoß gegen Obhuts- und Beratungspflichten. Verwehrung der beantragten Hörgeräteversorgung. Hörgeräteakustiker. kein Angebot von zuzahlungsfreien Geräten. Bewegung zu vertragskonformen Verhalten
Leitsatz (amtlich)
1. Zwar besteht im Rahmen der Erfüllung von Sachleistungsansprüchen grundsätzlich ein Auswahlermessen der Beklagten zwischen mehreren gleich geeigneten Leistungen, dieses kann sich jedoch auf Null reduzieren, wenn der Versicherte seinen Mitwirkungspflichten ausreichend nachgekommen ist (hier durch Austestung von sechs Hörgeräten, darunter auch eigenanteilsfreie).
Die Krankenversicherung muss sodann, um eine über die bereits erfolgten Mitwirkungshandlungen des Versicherten hinausgehende Mitwirkungspflicht zur Erprobung weiterer Geräte, ggf bei einem anderen Akustiker, begründen zu können, konkrete eigenanteilsfreie Versorgungsalternativen aufzeigen. Sie muss insbesondere ein bestimmtes, ihrer Meinung nach geeignetes Gerät und einen Hörgeräteakustiker benennen, der bereit ist, dieses Gerät eigenanteilsfrei anzupassen.
2. Die Krankenversicherung verstößt zum einen gegen ihre Sachleistungspflicht, zum anderen gegen ihre Obhuts- und Beratungspflichten, wenn sie dem Versicherten eine beantragte Versorgung verwehrt, auf die unstreitig grundsätzlich ein Anspruch besteht, ohne eine Möglichkeit der zuzahlungsfreien Versorgung aufzuzeigen. Die Krankenkasse erfüllt ihre Leistungspflicht nicht bereits durch die abstrakte Möglichkeit einer ausreichenden Versorgung zum Vertragspreis, wenn der Versicherte trotz zumutbarer eigener Anstrengungen den Weg zu der erforderlichen Versorgung nicht findet. Etwaige Festbetragsregelungen oder vertraglich vereinbarte Pauschalpreise entheben die Krankenkassen nicht von ihrer Pflicht, im Rahmen der Sachleistungsverantwortung für die ausreichende Versorgung der Versicherten Sorge zu tragen.
3. Das Risiko, dass der Hörgeräteakustiker (evtl entgegen dem BIHA-Vertrag) keine geeigneten zuzahlungsfreien Geräte anbietet, trägt in letzter Konsequenz die Krankenversicherung. Es obliegt der Krankenversicherung, ihre Vertragspartner zu einem vertragskonformen Verhalten zu bewegen (sei es durch Vertragsstrafen, Regress oder Kündigung des Vertrages).
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 06.05.2010 und 29.07.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.06.2011 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten für die Hörgeräte Oticon Agil power in voller entstehender Höhe mit Ausnahme der gesetzlichen Zuzahlung zu übernehmen.
3. Die Beklagt trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Kostenübernahme für die beidseitige Hörgeräteversorgung mit den Geräten Oticon Agil power BTE 13.
Die am E. 1958 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Sie leidet unter Innenohrschwerhörigkeit; links liegt eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit vor (94 % Hörverlust nach Röser), rechts eine hochgradige, bis an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit (86% Hörverlust nach Röser). Die Klägerin ist in einer Wäscherei arbeitstätig.
Sie erhielt aufgrund Hörverschlechterung von ihrem Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr. F. am 22.04.2010 eine Verordnung über eine neue beidseitige Hörgeräteversorgung. Mit dieser Verordnung wandte sie sich an den Hörgeräteakustiker G. in H., der eine Anpassung mit Hörgeräten durchführte.
Der Akustiker übersandte am 05.05.2010 eine Versorgungsanzeige an die Beklagte, woraufhin diese mit Bescheid vom 06.05.2010 die entstehenden Kosten in Höhe der Vergütungspauschale von 1.192,80 € übernahm.
Die Klägerin beantragte am 26.07.2010 bei der Beklagten die Übernahme der über die Versorgungspauschale hinausgehenden Kosten. Sie benötige dringend neue Hörgeräte, da sie mit den bisherigen, sieben Jahre alten Geräten immer weniger verstehe. Sie habe bei der Arbeit in der Wäscherei große Verständigungsprobleme. So müsse sie häufiger nachfragen und sortiere Wäsche falsch ein. Wenn sich mehrere Menschen unterhalten, könne sie nicht folgen, weil die Hörgeräte verzögert verstärken würden. Sie meide daher soziale Kontakte. Mit den höherwertigen Geräten höre sie auch mit Nebengeräuschen wieder, sie höre Vogelgesang intensiver und es komme nicht zu den bisherigen Verzögerungen. Sie könne Gesprächen mit mehreren Menschen wieder folgen und habe dadurch wieder mehr Freude am Leben.
Die Klägerin testete bei dem Akustiker G. folgende Hörgeräte aus:
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Einsilbenverstehen in der Anpasskabine |
Verstehen im Störgeräusch (Nutzschall 65 dB, Störschall 60 dB) |
Audio Service Nova 2 P |
50 % |
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Oticon GO power |
55 % |
20 % |
Oticon Agil power |
55 % |
40 % |
Mit Bescheid vom 29.07.2010 lehnte die Beklagte den Antrag auf weitere Kostenübernahme ab. Sie verwies auf den Vertrag zur Komplettversorgung mit Hörsystemen zwischen der Bundesinnung der Hörg...