Nachgehend

LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 14.02.2024; Aktenzeichen L 13 SB 60/23)

 

Tenor

1. Der Bescheid des Beklagten vom 9.6.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.9.2020 wird abgeändert.

2. Der Beklagte wird verpflichtet, ab 23.4.2020 den GdB mit 50 festzustellen.

3. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

 

Tatbestand

Im Streit steht die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) bei einem Diabetes mellitus im Kindesalter.

Die 2010 geborene Klägerin beantragte durch ihre Eltern am 23.4.2020 beim Beklagten, den GdB festzustellen und ihr die Merkzeichen „H“ und „B“ zuzuerkennen. Sie machte hierbei als Gesundheitsstörung einen „Diabetes mellitus Typ 1“ geltend. Der Beklagte zog einen Entlassungsbericht des Krankenhauses E. F. vom 12.3.2020, ein Pflegegutachten des MDK G. vom 15.4.2020 (Ergebnis: Pflegegrad 2 ab 1.4.2020) und das Diabetes-Tagebuch der Klägerin bei und veranlasste eine versorgungsärztliche Stellungnahme. Dr. H. schätzte hierin aufgrund eines „Diabetes mellitus“ den GdB mit 40 ein und empfahl, das Merkzeichen „H“ zuzuerkennen. Orientierungs- oder Gangstörungen lägen nicht vor; die Voraussetzungen für das Merkzeichen „B“ seien nicht belegt. Hierauf gestützt stellte der Beklagte mit Bescheid vom 9.6.2020 ab 23.4.2020 den GdB mit 40 sowie die Voraussetzungen für das Merkzeichen „H“ fest. Den weitergehenden Antrag lehnte er ab.

Am 2.7.2020 erhob die Klägerin durch ihre Eltern Widerspruch. Die Einschätzung des GdB möge insbesondere mit Blick auf den festgestellten Pflegegrad überprüft werden. Sie legte nachgehend eine ärztliche Stellungnahme der Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin I. J. vom 17.8.2020 vor.

In einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 9.9.2020 bestätigte Dr. K. die bisherige Einschätzung. Der Therapieaufwand mit selbstständigen, mehrfach täglichen Messungen, Insulinanpassungen nach Mahlzeit und körperlicher Belastung und Insulinabgaben über eine Insulinpumpe seien mit einem GdB von 40 und dem Merkzeichen „H“ (bis zum vollendeten 16. Lebensjahr) angemessen bewertet. Ein GdB von 50 komme in Betracht, wenn zudem starke Stoffwechselschwankungen oder Hypoglykämien mit Fremdhilfebedarf belegt seien. Dies sei hier nicht der Fall.

Hierauf gestützt, wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10.9.2020 als unbegründet zurück.

Am 7.10.2020 hat die Klägerin durch ihre anwaltlichen Prozessbevollmächtigten vor dem Sozialgericht Osnabrück Klage erhoben. Sie macht geltend, aufgrund der Diabeteserkrankung werde sie durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt. Sie sei, auch nach Einschätzung des L. noch ständig auf fremde Hilfeleistungen angewiesen und könne Maßnahmen zur Abwendung von Blutzucker-Entgleisungen noch nicht selbst durchführen. Es träten sehr schwankende hyperglykäme Blutzuckerwert auf, der HbA-1c-Wert habe sich erhöht. Nach der Rechtsprechung des BSG sei zur Bemessung des GdB eine Gesamtbetrachtung aller Lebensbereiche vorzunehmen. Die Klägerin legt ergänzend Arztbriefe über Behandlungen im M. J. vor.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 9.6.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.9.2020 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, ab 23.4.2020 den GdB mit 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verteidigt seine Entscheidung, die zutreffend sei. Er verweist insbesondere auf von ihm vorgelegte versorgungsärztliche Stellungnahmen (zuletzt Dr. N. vom 30.12.2022). Ein höherer GdB als 40 komme nicht in Betracht. Es liege keine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung vor. Insbesondere seien keine Hypoglykämien mit Fremdhilfebedarf aufgetreten.

Die Kammer hat einen Befundbericht des M. J. vom 4.6.2022 mit weiteren Arztbriefen eingeholt und Auszüge des Diabetiker-Tagebuchs der Klägerin beigezogen.

Zudem hat die Kammer die Mutter als gesetzliche Vertreterin der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung ergänzend gehört. Diese hat u. a. angegeben, die Insulinpumpe sei auf das Basalinsulin eingestellt. Die Dosen müssen jeweils abhängig von Nahrungsaufnahme und Aktivitäten angepasst und eingegeben werden. Dies müsse bei besonderen Lebensmitteln genau berechnet werden. Dies könne die Klägerin nicht allein leisten. Die Klägerin sei sehr sportlich. Insbesondere bei sportlichen Aktivitäten müssten die Blutzuckerwerte genau stimmen. Schwimmen und Reiten wären sonst zu gefährlich. Bei solchen Aktivitäten müsse sie (die Mutter) oder eine andere Bezugsperson (Vater, Geschwister) dabei sein und dafür sorgen, dass die Klägerin nur dann beginne, wenn die Blutzuckerwerte passen. Während der Grundschulzeit sei die Klägerin durch eine Schulbegleitung unterstützt worden. Diese sei für den Besuch der weiterführenden Schule nicht mehr genehmigt worden. Die Klägerin müsse selbst die Blutzuckerwerte ablesen und hierauf reagieren. Bei Problemen mit den Blutzuckerwerten müsse sie sich an Lehrkräfte wenden und diese mitteilen, was sie aber nicht...

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