Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche Sozialhilfe. Leistungsausschluss für dem Grunde nach Leistungsberechtigte nach dem SGB II. Erwerbsfähigkeit als maßgebliches Kriterium für eine Systemabgrenzung. keine Verpflichtung zur Leistungsgewährung. Europarechtskonformität. Charakter der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Verfassungsmäßigkeit. Zumutbarkeit einer Rückkehr ins Heimatland

 

Leitsatz (amtlich)

1. Personen, die aufgrund § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen sind, sind durch § 21 S 1 SGB XII auch vom Leistungsbezug nach dem SGB XII ausgeschlossen.

2. Die anderweitige Auffassung des BSG führt zu einem Ergebnis, das mit der "Systemabgrenzung" zwischen dem SGB II und dem SGB XII nicht vereinbar ist.

3. Der Ansatz des BSG, jeder nicht ausgewiesene Ausländer müsse bei einem verfestigten Aufenthalt in irgendeiner Weise vom Aufenthaltsland alimentiert werden, verkennt den Charakter der unionsrechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeit.

4. Das entformalisierte und faktisch nahezu schrankenlose Freizügigkeitsrecht von Arbeitnehmern und Arbeitsuchenden lässt sich nur durchführen und aufrechterhalten, wenn zur Vermeidung unerwünschter und nicht beabsichtigter Missbrauchs- und Mitnahmeeffekte die Voraussetzungen für den Bezug von Sozialleistungen bei Wahrnehmung dieses Rechts enger geknüpft werden als das Freizügigkeitsrecht selbst.

5. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen wegen des begrenzten Wirkungsbereichs des Leistungsausschlusses und unter Abwägung mit den Vorteilen, die Arbeitsuchende durch die Freizügigkeit erlangen, nicht.

6. Teil der dem Art 1 GG zu Grunde liegenden Vorstellung vom Menschen ist die Eigenverantwortung. Dazu gehört bei einem ausbleibenden nachhaltigen Erfolg der Arbeitsuche ggf die Rückkehr in das Heimatland.

 

Orientierungssatz

Zu Leitsatz 1: Entgegen BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 43 und vom 20.1.2016 - B 14 AS 35/15 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 47; Anschluss an SG Berlin vom 11.12.2015 - S 149 AS 7191/13 = NDV-RD 2016, 70 und vom 22.2.2016 - S 95 SO 3345/15 ER, SG Dortmund vom 11.2.2016 - S 35 AS 5396/15 ER sowie LSG Celle-Bremen vom 22.2.2016 - L 9 AS 1335/15 B ER = NdsRpfl 2016, 168.

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) hilfsweise um die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).

Der im Jahr 1959 geborene Kläger ist französischer Staatsangehöriger. Seit dem Jahr 1978 ist er in verschiedenen Ländern, zuletzt hauptsächlich in Frankreich und Deutschland, in der Gastronomie tätig - die Beschäftigungszeiten umfassten seit dem Jahr 2007 jeweils nur einige Monate. Nach seinem letzten Wegzug aus Deutschland im Juni 2012 reiste er im Juli 2013 aus Frankreich kommend erneut nach Deutschland ein. Seither lebt er hier. Am 15.07.2013 nahm er eine Beschäftigung als Servicekraft in der Gastronomie auf. Dieses Beschäftigungsverhältnis kündigte er selbst zum 05.10.2013. Im November 2013 beantragte der Kläger beim Beklagten die Gewährung von Arbeitslosengeld II. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 09.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.01.2014 ab. Zur Begründung verwies er auf die für Ausländer geltende Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II. Das Aufenthaltsrecht des Klägers in Deutschland leite sich allein aus dem Zweck zur Arbeitssuche ab. Unerheblich sei, dass er nicht erstmalig nach Deutschland eingereist sei. Sein Recht auf Freizügigkeit als Arbeitnehmer sei nicht bestehen geblieben, da er seine Stelle selbst gekündigt habe.

Deswegen hat der Kläger am 16.01.2014 beim Sozialgericht Reutlingen Klage erhoben (S 10 AS 114/14) und gleichzeitig die Gewährung von einstweiligen Rechtsschutz geltend gemacht (S 10 AS 113/14 ER). Mit einstweiliger Anordnung vom 06.02.2014 ist der Beklagte vom Sozialgericht zur vorläufigen Erbringung von Leistungen für die Zeit vom 16.01.2014 bis 30.04.2014 verpflichtet worden. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, für die Entscheidung komme es auf die Europarechtskonformität der Ausschlussklausel des § 7 SGB II an. Diese sei bislang nicht abschließend geklärt, so dass deswegen nach einer Folgenabwägung die Verpflichtung des Beklagten auszusprechen gewesen sei.

Am 13.03.2014 nahm der Kläger wieder eine Beschäftigung auf.

Mit Urteil vom 15.09.2015 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Rechtssache C-67/14 (Sache Alimanovic) auf den Vorlagebeschluss des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12.12.2013 (B 4 AS 9/13 R; alle Entscheidungen, auch die nachfolgend zitierten, in juris) die Europarechtskonformität der Ausschlussklausel § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II bestätigt. Das BSG hat nachfolgend in ähnlich gelagerten Fällen für den Fall eines mithin europarechtskonformen Leistungsausschlusses nach § 7 ...

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