Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Einbeziehung eines Folgebescheides. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Bedarfsgemeinschaft. Individualansprüche der Mitglieder. verfassungskonforme Auslegung des § 9 SGB 2. Einkommens- bzw Vermögensberücksichtigung. Entlassungsentschädigung. Einkommensberechnung. Aufteilung einmaliger Einnahmen. keine Ermächtigungskonformität von § 2 Abs 3 S 3 AlgIIV
Orientierungssatz
1. Eine erweiternde Auslegung des § 96 SGG dahingehend, dass durch den Erlass eines nachträglichen Bescheides eine Einbeziehung weiterer Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs 3 SGB 2 erfolgen kann, hält die Kammer im Hinblick auf die Individualansprüche der Mitglieder nicht für geboten.
2. Die Bedarfsgemeinschaft ist kein eigenständiges Rechtssubjekt. Sie ist ein hilferechtliches Konstrukt für Personen, die in einem engen persönlichen und verwandschaftlichen Verhältnis leben. Die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgemeinschaft hat Auswirkungen auf individuelle Ansprüche, sowohl in ihrer Höhe wie auch dem Grunde nach. Es ist weder von einer Gesamthandsgemeinschaft noch von einer Bruchteilsgemeinschaft auszugehen (vgl BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 1). Auch wenn eine Individualisierung der Rückforderung und Aufhebung von Leistungen nach SGB 2 bezogen auf das jeweilige hilfebedürftige Mitglied der Bedarfsgemeinschaft für notwendig erachtet wird, schuldet dieses Mitglied den Rückforderungsbetrag gegen die Bedarfsgemeinschaft nicht als Gesamtgläubiger.
3. § 9 Abs 1 SGB 2 ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass das Einkommen erzielende Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zunächst den eigenen Bedarf deckt und nur aus dem überschießenden Einkommen im Verhältnis nach § 9 Abs 2 S 3 SGB 2 der Bedarf der übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zu decken ist (Ablehnung von BSG aaO). Niemand darf auf die Inanspruchnahme des Staates verwiesen werden, der seinen eigenen Bedarf decken könne und dem durch gesetzliche Regelungen weniger als das Existenzminimum verbleibe (vgl BVerfG vom 25.9.1992 - 2 BvL 5/91 = BVerfGE 87, 153).
4. § 2 Abs 3 S 3 AlgIIV idF vom 22.8.2005 ist nicht durch die Verordnungsermächtigung des § 13 SGB 2 gedeckt. Durch § 2 Abs 3 S 3 AlgIIV erfolgt eine Bestimmung über die Verwendung von Vermögen auf untergesetzlicher Ebene oder eine Einkommensanrechnung für Bedarfszeiträume, die dem Monat des Einkommenszuflusses nachfolgen. Zu beidem ermächtigt § 13 SGB 2 nicht. Eine weitere Definition von Einkommen und Vermögen wird dem Verordnungsgeber in § 13 SGB 2 nicht eingeräumt. Für eine Verteilung von Einkommen auf weitere Bedarfszeiträume ist dem Verordnungsgeber keine nach Inhalt, Zweck und Ausmaß bestimmte Ermächtigung erteilt worden.
5. Die Aufhebung der Leistungsbewilligung aufgrund einer an den Ehegatten gezahlten Abfindung bzw Entlassungsentschädigung ist daher rechtswidrig, wenn die Abfindung als Einkommen bzw einmalige Einnahme auf die dem Zuflussmonat folgenden Monate verteilt wurde.
Nachgehend
Tenor
Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 28. Oktober 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 02. Februar sowie den Bescheid vom 22. August 2007 wird insoweit aufgehoben als Leistungen für den Kläger für die Monate November 2006 bis März 2007 aufgehoben und zurückgefordert werden.
Die Beklagte erstattet dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten.
Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Beklagten. Der 1954 geborene, deutsche Kläger lebt mit seiner 1969 geborenen, deutschen Ehefrau zusammen mit dem im Mai 2001 geborenen gemeinsamen Sohn in einer Bedarfsgemeinschaft. Sie erhalten seit Januar 2005 ergänzende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Die Ehefrau des Klägers war bis zum 31. Oktober 2006 als Hauswirtschaftshilfe tätig, ihr Erwerbseinkommen lag bei ca. 1.000,- € brutto. Der Kläger bezieht seit November 2006 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung in Höhe von 396,95 €. Die Ehefrau des Klägers war bis zum 31. Oktober 2006 berufstätig. Der Kläger und seine Ehefrau sind Eigentümer eines selbst genutzten Einfamilienhauses, welches durch Annuitätendarlehen sowie über Bausparverträge finanziert wird. Der Kläger ist Eigentümer eines im Jahr 2000 erstzugelassenen Pkw. Über weitere Vermögenswerte verfügte die Bedarfsgemeinschaft des Klägers nicht.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger, dessen Ehefrau und dem gemeinsamen Sohn mit bestandskräftigem Bescheid vom 19. September 2006 Leistungen für den Zeitraum 1.10.2006 bis zum 31. März 2007 monatliche Leistungen in Höhe von 611,77 €.
Die Beklagte legte hierbei ausweislich des Berechnungsbogens zum Bescheid vom 20. September 2006 bei dem Kläger einen Bedarf von 506,79 € zugrunde, der sich aus der Regelleistung von 311,- €, einem Mehrbedarf wegen kostenaufwendiger Ernährung in Höhe von 35,79 € sowie Unterkunftsbedarf in Höhe ...