Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. einstweiliger Rechtsschutz. Eingliederungshilfe. Leistungsvereinbarung nach § 75 Abs 3 SGB 12. Ablehnung eines Leistungsangebots. Eilbedürftigkeit. Glaubhaftmachung. Zeitpunkt der Anordnungsvoraussetzung. Zuständigkeit der Schiedsstelle. mittelbare Drittwirkung von Grundrechten
Orientierungssatz
1. Für die Festsetzung einer Vergütung gem § 75 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB 12 durch die Schiedsstelle ist das Bestehen einer Leistungsvereinbarung gem § 75 Abs 3 S 1 Nr 1 SGB 12 nach dem Wortlaut des Gesetzes keine zwingende Voraussetzung, jedoch ist nach der Gesetzessystematik nur der Abschluss einer Leistungsvereinbarung vor oder zugleich mit der Vergütungsvereinbarung sinnvoll; deshalb hat eine Einrichtung vor der Anrufung der Schiedsstelle eine Leistungsvereinbarung nötigenfalls vor Gericht zu erstreiten.
2. Das Schiedsstellenverfahren nach § 77 Abs 1 S 2 SGB 12 ist darauf ausgerichtet, dass bei den Streitigkeiten grundsätzlich eine Einigung angestrebt wird und sich die Beteiligten in einigen, aber nicht in allen Gegenständen geeinigt haben; ist jedoch nicht nur die Vergütung strittig, sondern verweigert der Sozialhilfeträger generell den Abschluss einer Gesamtvereinbarung, so ist der Rechtsschutz unmittelbar vor den Sozialgerichten zu gewähren.
3. Die Anforderungen an die Glaubhaftmachung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes sind umso niedriger anzusetzen, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch im Hinblick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl BVerfG vom 22.11.2002 - 1 BvR 1586/02 = NJW 2003, 1236 und vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05 = Breith 2005, 803).
4. Für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung maßgebend (vgl LSG Stuttgart vom 15.6.2005 - L 7 SO 1594/05 ER-B und vom 1.8.2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B = FEVS 57, 72).
5. Zum Vorliegen eines Anordnungsanspruchs des Einrichtungsträgers auf Annahme eines Leistungsangebotes durch den Sozialhilfeträger zur Einführung eines neuen Leistungstyps zur Gewährleistung des erforderlichen Betreuungsaufwandes für eine spezielle Gruppe von behinderten Menschen, der nicht im Rahmenvertrag gem § 79 SGB 12 aufgeführt ist.
6. Die Eilbedürftigkeit des Anordnungsanspruchs ergibt sich aus dem berechtigten Interesse des Einrichtungsträgers an einer angemessenen Vergütung, da ihm aufgrund gestiegener Betreuungskosten, welche er aufgrund der Regelung in § 77 Abs 2 SGB 12 und § 77 Abs 1 S 1 Halbs 2 SGB 12 nicht rückwirkend erstattet bekommt, da trotz satzungsmäßigem Verbots dauerhaft ein monatliches Defizit entsteht und ihn damit einseitig belastet.
7. Im Rahmen der Auslegung des § 53 SGB 12 im einstweiligen Rechtsschutzverfahren sind aufgrund der sog Ausstrahlungs- oder mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte (BVerfG vom 15.1.1958 - 1 BvR 400/51 = BVerfGE 7, 198 und vom 28.4.1976 - 1 BvR 71/73 = BVErfGE 42, 143) daher auch die Grundrechte mittelbar betroffener Dritter zu beachten; insbesondere Art 2 Abs 2 S 1 GG (Gefahr für die körperliche Unversehrtheit) ist aufgrund der Schutzpflicht des Staates für die körperliche Unversehrtheit, welche zum Kernbereich der Verfassung und der Leistungspflicht in den sozialen Sicherungssystemen gehört, zu berücksichtigen.
Tatbestand
Die Antragstellerin und Klägerin im Hauptsacheverfahren S 3 SO 4212/05 begehrt die Verpflichtung des Antragsgegners zum Abschluss einer Leistungsvereinbarung gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 1 SGB XII.
Die Antragstellerin wurde 1971 vom Bistum R. und dem C-Verband der Diözese gegründet und betreibt seit über 30 Jahren in S. verschiedene Einrichtungen u.a. für Menschen mit Behinderungen. In den Einrichtungen der Antragstellerin leben rund 1200 Menschen mit einer Behinderung sowie alte und pflegebedürftige Menschen.
Seit Mitte der 80er Jahre wurden dort spezielle Wohngruppen aufgebaut, in denen behinderte Menschen mit besonderen zusätzlichen Verhaltensauffälligkeiten (Störverhalten gegenüber Dritten, erhebliche Autoaggression, Angriffe auf andere Behinderte und Angriffe auf Mitarbeiter oder außenstehende Dritte) leben. Hintergrund des vorliegenden Verfahrens ist die Erbringung von Eingliederungshilfe für zehn schwerstbehinderte Menschen, die in der Einrichtung Stiftung H. in S., in vollstationärer Betreuung leben. Die Finanzierung war in der Vergangenheit im Rahmen der Eingliederungshilfe nach §§ 39 ff. BSHG vom Landeswohlfahrtsverband W.-H. als damals zuständigem Leistungsträger übernommen worden.
Am 15.12.1998 wurde zwischen den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege einerseits und den Landeswohlfahrtsverbänden bzw. den Spitzenverbänden der kommunalen Kostensträger ein Rahmenvertrag gemäß § 93d Abs. 2 BSHG abgeschlossen, der unter anderem bestimmte Regelleistungstypen für die Behindertenhilfe vorsieht. Die Regelleistungen für geistig Behinderte in vollstätionärer Hilfe wurden im Leistungstyp I.2.1 abgeb...