Leitsatz
1. Eine Verfügung von Todes wegen, mit der die Eltern ihr behindertes, durch den Sozialhilfeträger unterstütztes Kind nur als Vorerben auf einen den Pflichtteil kaum übersteigenden Erbteil einsetzen, bei dessen Tod ein anderes Kind als Nacherben berufen (sog. Behindertentestament), verstößt nicht gegen die guten Sitten.
2. Ein von dem behinderten Kind mit seinen Eltern lebzeitig abgeschlossener Pflichtteilsverzichtsvertrag ist auch nicht im Falle des Bezuges von Sozialleistungen sittenwidrig. Vergleichbarkeit mit einer sittenwidrigen Unterhaltsverzichtsvereinbarung unter Eheleuten ist nicht gegeben, da der Erb- bzw. Pflichtteilsverzicht nur eine unsichere Erwerbschance betrifft.
Sachverhalt
Der Kläger begehrt aus übergeleitetem Recht im Wege der Stufenklage Auskunft und Zahlung von dem Beklagten als Erben seiner verstorbenen Ehefrau O aus streitigem Pflichtteilsrecht der Tochter P des Beklagten. Der Kläger gewährt P seit Jahren Eingliederungshilfe gem. § 53 ff. SGB VII. Die bisherigen Aufwendungen belaufen sich auf 400.000 EUR, die laufenden Kosten auf monatlich 3.000 EUR. Nach dem Tod der Mutter der P am 03.11.2006 leitete der Kläger deren Pflichtteils- und Auskunftsanspruch gem. § 2314 BGB auf sich über.
Die Eheleute lebten in Zugewinngemeinschaft und hatten drei eheliche Kinder. Am 06.11.2006 errichteten sie ein gemeinschaftliches Testament und setzten sich gegenseitig zu Alleinerben ein, die Kinder U und D zu je 83/100 zu Schlusserben des Längslebenden sowie P zu 34/100 als Vorerbin ohne Befreiung von den gesetzlichen Beschränkungen der §§ 2113 ff. BGB. Es wurde Dauertestamentsvollstreckung hinsichtlich des auf P entfallenden Erbteils angeordnet und D zum Testamentsvollstrecker bestimmt.
Weiterhin heißt es: "Frau O. gab an, ihren Namen nicht schreiben und nicht sprechen zu können. […] Frau O. kann sich durch Zeichen verständlich machen … Der Notar überzeugt sich durch die Verhandlung von der erforderlichen Geschäfts- und Testierfähigkeit der Erblasser. Frau O. ist schwer krebskrank und nach Auskunft ihres behandelnden Arztes, des Zeugen und Erklärungshelfers … testierfähig. … Unsere Tochter P. ist lernbehindert, steht jedoch nicht unter gerichtlicher Betreuung und ist auch nicht in der Geschäftsfähigkeit eingeschränkt …" Im Anschluss verzichteten alle Geschwister durch notariell beurkundeten Pflichtteilsverzichtsvertrag auf die Geltendmachung ihrer Ansprüche nach dem Erstversterbenden.
Der Kläger ist nunmehr der Ansicht, P stehe ein Pflichtteilsanspruch nach § 2303 Abs. 1 BGB i.V.m. § 1924 BGB zu, den er gerichtlich einfordert. Das LG hat die Klage abgewiesen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Berufung.
Entscheidung
Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Gem. § 2303 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. § 93 Abs. 1 S. 1 SGB XII ist der Kläger berechtigt, den Pflichtteilsanspruch der P klageweise zu verfolgen, da ein solcher Anspruch inkl. der Hilfsansprüche gem. § 2314 BGB überleitungsfähig ist. Hat ein Sozialhilfeträger wegen seiner getätigten Aufwendungen einen Anspruch auf sich übergeleitet, so kann er den übergeleiteten Anspruch selbstständig verfolgen, ohne dass es auch eine Entscheidung des Pflichtteilsberechtigten selbst ankommt.
Es bestehen keine Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit des gemeinschaftlichen Testaments der Eheleute. Die Konstruktion ähnelt dem sog. Berliner Testament, die gesetzlich anerkannt ist (§ 2269 BGB). Auch steht jedem Erblasser als Ausfluss seiner Testierfähigkeit grds. das Recht zu, über sein Vermögen nach dem Tode nach Belieben zu verfügen, so dass letztlich die Nachrangigkeit der Sozialhilfe mit der bestehenden Testierfreiheit abzuwägen ist. Die h.M. geht jedoch davon aus, dass eine Verfügung von Todes wegen, mit der die Eltern ihr behindertes, durch den Sozialhilfeträger unterstütztes Kind nur als Vorerben auf einen den Pflichtteil kaum übersteigenden Erbteil einsetzen (hier 17 % anstatt 16,666%), bei seinem Tod ein anderes Kind als Nacherben berufen und dieses auch zum Vollerben des übrigen Nachlasses bestimmen, nicht sittenwidrig, auch wenn dadurch der Träger der Sozialhilfe keinen Kostenersatz erlangen kann.
Gem. § 2233 Abs. 2 BGB war es auch unschädlich, dass die O. zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung nicht (mehr) sprechen und schreiben konnte. Die zwingenden Vorgaben der §§ 22, 24 BeurkG wurden eingehalten.
Auch kann der Kläger keinen Pflichtteilsanspruch geltend machen, weil die P wirksam hierauf verzichtet hat. Ihre Geschäftsunfähigkeit wurde in der Vergangenheit nicht festgestellt, die entsprechenden Voraussetzungen wurden von dem Kläger auch nicht schlüssig vorgetragen und unter Beweis gestellt; auch aus den Akten ergibt sich nichts Entsprechendes.
Bei dem Pflichtteilsverzicht handelt es sich auch nicht um einen unzulässigen Vertrag zu Lasten Dritter. Zwar wird teilweise vertreten, dass ein Pflichtteilsverzicht zumindest dann sittenwidrig sei, wenn der Verzichtende sowohl im Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts als auch des Erbfalls hilfebedür...