Rz. 39
Das Recht auf den Pflichtteil ist ein Erbrecht (Art. 27 ErbG) und kein schuldrechtlicher Anspruch. Die Gesamtheit aller Pflichtteile bildet den "reservierten Teil", die "Reserve", sodass der Erblasser nur über den Rest, den sogenannten "verfügbaren Teil" des Nachlasses, frei verfügen kann (Art. 26 Abs. 1, 3 ErbG). Der Pflichtteilsberechtigte ist als Rechtsnachfolger des Erblassers im Umfang seiner Pflichtteilsquote am Nachlass beteiligt (auch am nach Verfahrensschluss gefundenem Vermögen) und haftet aliquot für die Verbindlichkeiten. Der Erblasser kann jedoch bestimmen, dass der Pflichtteil durch die Zuwendung von Sachen, Rechten oder Geld erfüllt wird (Art. 27 ErbG). Nach einer Entscheidung kann er allerdings nicht verfügen, dass der Testamentserbe den gesamten Nachlass erhalten und den Pflichtteilsberechtigten in Geld auszahlen soll.
Rz. 40
Pflichtteilsberechtigt sind gemäß Art. 25 Abs. 1 ErbG die Nachkommen des Erblassers, die Adoptierten und ihre Nachkommen, seine Eltern, sein verschieden- oder gleichgeschlechtlicher Ehegatte (vgl. Rdn 18) und sein verschieden- oder gleichgeschlechtlicher Partner einer länger dauernden Lebensgemeinschaft (Art. 4.a ErbG, vgl. Rdn 23). Diese Personen zählen zu den absoluten Pflichterben. Die Großeltern und Geschwister des Erblassers sind pflichtteilsberechtigt, sofern sie auf Dauer arbeitsunfähig sind und nicht über den notwendigen Lebensunterhalt verfügen (Art. 25 Abs. 2 ErbG, relative Pflichterben). Alle genannten Personen sind jedoch nur Pflichterben, sofern sie im konkreten Fall als gesetzliche Erben berufen wären (Art. 25 Abs. 3 ErbG). So sind beispielsweise die Eltern des Verstorbenen nur in Ermangelung von Nachkommen gesetzliche Erben (zweiter Ordnung) und somit pflichtteilsberechtigt.
Rz. 41
Der Pflichtteil der Nachkommen, der Adoptierten und ihrer Nachkommen sowie des Ehegatten und Partners einer länger dauernden Lebensgemeinschaft umfasst die Hälfte, jener der Eltern, Großeltern und Geschwister ein Drittel des (hypothetischen) gesetzlichen Erbteils (Art. 26 Abs. 2 ErbG). Bei der Berechnung sind alle Personen zu berücksichtigen, die im konkreten Fall neben dem Erben, für den der Pflichtteil berechnet wird, gesetzliche Erben sein könnten, unabhängig davon, ob es sich dabei auch um Pflichterben handelt. Weiterhin ist die Möglichkeit einer Erhöhung des Erbteils zugunsten oder einer Verringerung des Erbteils zu Lasten des Erben, dessen Pflichtteil berechnet wird, zu berücksichtigen (siehe Art. 13, 23 und 24 ErbG; Rdn 21, 28). Erbunwürdige oder enterbte Personen werden als vorverstorben betrachtet (Art. 127 und Art. 44 ErbG). Der Ehegatte, der Partner einer länger dauernden Lebensgemeinschaft und die Nachkommen, die als potenzielle gesetzliche Erben durch Vertrag mit dem Erblasser für sich (bzw. die Nachkommen auch für ihre Nachkommen) eine noch nicht angefallene Erbschaft ausgeschlagen haben (Art. 137 ErbG), werden ebenso wenig bei der konkreten Pflichtteilsberechnung berücksichtigt wie jene Erben, die für sich und ihre Nachkommen im Nachlassverfahren die Erbschaft ausschlagen, vgl. Art. 133 i.V.m. Art. 208 Abs. 3 ErbG (Erbteil oder Pflichtteil), Art. 208 Abs. 5 ErbG. Der Ausschlagende kann jedoch auch nur im eigenen Namen ausschlagen. Aufgrund des Eintrittsrechts (Repräsentation) können sodann seine Nachkommen, sofern sie Pflichterben sein können, den Pflichtteil erben.
Rz. 42
Ausgangspunkt für die Berechnung des verfügbaren Teils des Nachlasses ist der reine Nachlass im Zeitpunkt des Todes des Erblassers. Dem Wert des reinen Nachlasses sind sodann Geschenke hinzuzurechnen. Dazu zählen Geschenke an Personen, die im konkreten Fall mangels testamentarischer Verfügung erben würden (gesetzliche Erben in concreto), wobei Geschenke an die Erbschaft Ausschlagende ebenso zu berücksichtigen sind wie jene, für die der Erblasser ein Unterbleiben der Anrechnung angeordnet hat (Art. 28 Abs. 4 ErbG). Weiterhin sind Geschenke hinzuzurechnen, die der Erblasser im letzten Lebensjahr Personen gemacht hat, die keine gesetzlichen Erben sind, wobei jedoch übliche kleinere Geschenke ausgenommen sind (Art. 28 Abs. 5 ErbG). Geschenke zu Wohltätigkeitszwecken und jene, die nach Art. 54, 55 und 56 Abs. 1 ErbG (siehe Rdn 36) von der Anrechnung auf den Erbteil ausgenommen sind, bleiben ebenso außer Betracht (Art. 28 Abs. 6 ErbG). Die Bewertung eines Geschenks erfolgt nach dem Wert im Todeszeitpunkt des Erblassers und nach dem (Zu-)Stand im Zeitpunkt der Schenkung (Art. 30 ErbG).
Rz. 43
Die Summe aus dem reinen Nachlass und den Geschenken stellt den "rechnerischen" Nachlasswert dar. Von diesem Wert (oder vom reinen Nachlass in Ermangelung von Geschenken) werden die einzelnen Pflichtteile berechnet. Der verfügbare Teil des Nachlasses folgt aus dem Abzug der Summe der einzelnen Pflichtteile. Übersteigt der Gesamtwert der letztwilligen Verfügungen und Geschenke den verfügbaren Teil, liegt eine Pflichtteilsverkür...