Rz. 20
Der Gesetzgeber des GKV-WSG nahm dieses Urteil zum Anlass, § 37 Abs. 2 Satz 1 HS 2 mit Wirkung zum 1.4.2007 erneut zu ändern. Nunmehr umfasste der Anspruch auf Behandlungspflege auch verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen in den Fällen, in denen dieser Hilfebedarf bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach den §§ 14 und 15 SGB XI a. F. zu berücksichtigen ist. Insbesondere handelte es sich nach der amtlichen Begründung (BT-Drs. 16/3100 S. 105) dabei um
- das An- und Ausziehen von Kompressionstrümpfen ab Klasse 2,
- eine oro/tracheale Sekretabsaugung,
- die Verabreichung eines Klistiers, eines Einlaufs,
- die Einmalkatheterisierung,
- das Wechseln einer Sprechkanüle gegen eine Dauerkanüle bei einem Tracheostomapatienten zur Ermöglichung des Schluckens,
- Maßnahmen zur Sekretelimination bei Mukoviszidose oder Erkrankungen mit vergleichbarem Hilfebedarf.
Dem Gemeinsamen Bundesausschuss oblag die Aufgabe, in Richtlinien nach § 92 Art und Inhalt der verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen zu konkretisieren (Abs. 6 Satz 2). Dies erfolgte durch die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege (Häusliche Krankenpflege-Richtlinie – HKP-RL) i.d. Neufassung v. 17.9.2009 (BAnz v. 9.2.2010), in Kraft getreten am 10.2.2010, zuletzt geändert am 17.9.2020 (BAnz AT 4.12.2020 B3), in Kraft getreten am 5.12.2020. Nach § 2 Abs. 6 HKP-RL (seinerzeitige Fassung) waren verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen insbesondere
- Einreiben mit Dermatika oder oro/tracheale Sekretabsaugung bei der Verrichtung des Waschens/Duschens/Badens,
- Verabreichung eines Klistiers, eines Einlaufs oder Einmalkatheterisierung bei der Verrichtung der Darm- und Blasenentleerung.
Rz. 21
Das BSG vertritt in Konsequenz dieser gesetzlichen Änderungen unter ausdrücklicher Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung im Urteil v. 17.6.2010 (B 3 KR 7/09 R) die Auffassung, dass der Gesetzgeber für alle verrichtungsbezogenen Maßnahmen der Behandlungspflege eine Doppelzuständigkeit von Krankenkassen und Pflegekassen geschaffen habe, die in der Praxis bei Sachleistungsansprüchen stets zu einer Inanspruchnahme der Krankenkasse führt, weil der Anspruch aus § 37 Abs. 2 der Höhe nach – im Gegensatz zu Leistungen der Pflegekassen – nicht begrenzt ist. Versicherte, die häuslicher Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 bedürfen, sollten nach der gesetzgeberischen Konzeption diesen Anspruch auch dann in möglichst weitem Umfang wahrnehmen können, wenn sie pflegebedürftig sind und deshalb Leistungen nach dem SGB XI erhalten. Dies entspreche dem Zweck der Regelungen der sozialen Pflegeversicherung, die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu ergänzen, sie aber prinzipiell nicht ganz oder teilweise zu verdrängen. Folge war eine Leistungspflicht beider Sozialversicherungsträger, wenn sowohl eine Fachkraft für die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung als auch eine weitere Fachkraft für die Behandlungspflege tätig wird. Bei gleichzeitiger Erbringung der Leistungen durch dieselbe Fachkraft war eine Kostenaufteilung zwischen Krankenkasse und Pflegekasse vorzunehmen, die dem Grundsatz der Parität und Gleichrangigkeit beider Ansprüche Rechnung trägt. Dabei war unter Berücksichtigung der Ausführungen des BSG wie folgt vorzugehen:
- In einem ersten Schritt ist zunächst der Gesamtumfang aller Hilfeleistungen, d. h. der der Behandlungspflege und der sonstigen Pflegemaßnahmen zu erfassen.
- Sodann ist von dem festgestellten Gesamtumfang aller Hilfeleistungen die von der Pflegekasse geschuldete "reine" Grundpflege (d. h. ohne den Zeitaufwand für verrichtungsbezogene, krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen) zu trennen und zeitlich zu erfassen. Dieser reine Pflegebedarf – ggf. unter Berücksichtigung des Bedarfs an hauswirtschaftlicher Versorgung – ist nicht von der Krankenkasse zu leisten (§ 37 Abs. 2 Satz 6).
- Bei ärztlich verordneter, rund um die Uhr erforderlicher Behandlungspflege (einschließlich der verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen) ist der so ermittelte Zeitwert nicht vollständig, sondern nur zur Hälfte vom Anspruch auf die ärztlich verordnete Behandlungspflege abzuziehen, weil während der Durchführung der Grundpflege weiterhin Behandlungspflege – auch als Krankenbeobachtung – stattfindet und beide Leistungsbereiche gleichrangig nebeneinander stehen.
- Aus der Differenz zwischen dem verordneten zeitlichen Umfang der häuslichen Krankenpflege und der Hälfte des zeitlichen Umfangs der "reinen" Pflege ergibt sich der zeitliche Umfang der häuslichen Krankenpflege, für den die Krankenkasse einzutreten hat.
- Die Pflegekasse trägt die Kosten der Hälfte des Aufwands der "reinen" Grundpflege, jedoch begrenzt auf den Höchstbetrag für die Sachleistungen der dem Versicherten zuerkannten Pflegestufe. Reicht der Höchstbetrag zur Abdeckung dieser Kosten nicht aus, hat der Versicherte den verbleibenden Rest aus eigenen Mitteln aufzubringen; notfalls ist die Sozialhilfe eint...