1 Leitsatz
Jeder Wohnungseigentümer hat einen Anspruch auf Ersterrichtung der Wohnungseigentumsanlage. Die Grenze bildet nur § 242 BGB.
2 Normenkette
§ 22 WEG
3 Das Problem
Das AG weist eine Anfechtungsklage von Wohnungseigentümer K u. a. gegen folgenden Beschluss ab: "Der Verwalter wird beauftragt, innerhalb von 3 Wochen ab heute (16.9.2021) Angebote für die restlichen Abbruch- und Räumungsarbeiten einzuholen und diese Arbeiten dann innerhalb von weiteren 2 Wochen zu vergeben und kurzfristig durchzuführen unter Beachtung aller von der Stadt erlassenen Ordnungsverfügungen." Das AG meint, es stehe nicht fest, welche Maßnahmen für einen Abriss – auch zum Schutz der Nachbargebäude – erforderlich seien. Außerdem sei der Ausgang von Rechtsstreitigkeiten gegen den ausführenden Bauunternehmer abzuwarten. Ein Anspruch auf Ersterrichtung bestehe sowieso nicht, da das Gebäude noch nicht mindestens zur Hälfte errichtet worden sei. Die Abweisung der entsprechenden Beschlussersetzungsklage des K begründet es mit den nicht konkret genug gefassten Anträgen. Hiergegen wendet sich Wohnungseigentümer K.
4 Die Entscheidung
Mit einem Teilerfolg! K habe zwar keinen Anspruch, dass der Beschluss für ungültig erklärt werde. Denn er widerspreche einer ordnungsmäßigen Verwaltung, weil dem Verwalter die Entscheidung über die Auswahl des Vertragspartners überlassen werde. Die Vergabe von Aufträgen an Bauunternehmen und Architekten, um Abbruch- und Abdichtungsarbeiten durchführen sowie Ausführungspläne erstellen zu lassen, sei indessen keine Maßnahme von untergeordneter Bedeutung und führe zu erheblichen finanziellen Verpflichtungen.
K habe hingegen einen Anspruch auf Beschlussersetzung aus § 18 Abs. 2 WEG. Ein Wohnungseigentümer habe nämlich grundsätzlich einen Anspruch auf Ersterrichtung des gemeinschaftlichen Eigentums. Dieser folge aus der Unauflöslichkeit der Gemeinschaft nach § 11 Abs. 1 WEG. § 22 WEG (Wiederaufbau) sei nicht analog anzuwenden. Es handele sich bei dieser Regelung um eine nicht analogiefähige "Ausnahmevorschrift". Es entspreche außerdem einer ordnungsmäßigen Verwaltung (§§ 18 Abs. 2, 19 Abs. 2 Nr. 2 WEG), zumindest das gemeinschaftliche Eigentum zu errichten. Eine Ausnahme bestehe allerdings dann, wenn die Erstellung unzumutbar im Sinne von § 242 BGB sei.
Da eine Beschlussersetzung das Selbstorganisationsrecht der Wohnungseigentümer beschneide, dürfe sie stets nur so weit gehen, wie dies zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes unbedingt notwendig sei. Danach sei wie folgt zu tenorieren: "Es gilt als beschlossen, dass ein Sachverständigengutachten zur Feststellung der voraussichtlichen Kosten für den Abriss des Bestandsgebäudes und die Errichtung des Gemeinschaftseigentums der Wohnungseigentümergemeinschaft eingeholt wird. Hierfür wird die Verwalterin beauftragt, unverzüglich Angebote für die Erstellung des Sachverständigengutachtens einzuholen und diese der Wohnungseigentümergemeinschaft zur Wahl zu stellen. Die Wohnungseigentümergemeinschaft wird verpflichtet, über die Vergabe des Auftrags an eine Sachverständige oder einen Sachverständigen sowie dessen Finanzierung nach Miteigentumsanteilen einen Beschluss herbeizuführen".
5 Hinweis
Problemüberblick
Im Fall geht es um eine Wohnungseigentumsanlage, die es baulich noch nicht gibt. Auf dem in Wohnungseigentum aufgeteilten Grundstück gibt es nur ein teilweise abgerissenes Gebäude ("Altgebäude"). Warum? Der Bauträger, der den Erwerbern Wohnungseigentum versprochen hat, ist bereits während der Abrissarbeiten insolvent geworden. Um eine Wohnungseigentumsanlage herzustellen, müsste das Altgebäude vollständig abgerissen werden. Anschließend müsste dann die Wohnungseigentumsanlage errichtet werden. Diesen Weg möchte Wohnungseigentümer K auch gehen. Die anderen Wohnungseigentümer wollen es mehrheitlich nicht. Fraglich ist, ob K seinen Willen gegen den Mehrheitswillen durchsetzen kann. Dazu ist zu fragen, ob § 22 WEG entsprechend anwendbar ist.
Steckengebliebener Bau
Der Anspruch auf Fertigstellung eines steckengebliebenen Baus besteht nach herrschender Meinung nur dann, wenn die Voraussetzungen des § 22 WEG entsprechend erfüllt sind. Dieser Ansicht stemmt sich das LG entgegen. Es meint, man müsse anhand von § 242 BGB die Unzumutbarkeit suchen. Diese beschreibt aber § 22 WEG gerade.
Was ist für die Verwaltungen besonders wichtig?
In entsprechenden Anlagen dürfte es noch keine Verwaltung geben. Wichtiger ist die Kenntnis von § 22 WEG. Der lautet: "Ist das Gebäude zu mehr als der Hälfte seines Wertes zerstört und ist der Schaden nicht durch eine Versicherung oder in anderer Weise gedeckt, so kann der Wiederaufbau nicht beschlossen oder verlangt werden".
6 Entscheidung
LG Koblenz, Urteil v. 20.11.2023, 2 S 29/22 WEG