Leitsatz

Bei Anhängigkeit eines Steuerstrafverfahrens rechtfertigt das Zwangsmittelverbot des § 393 Abs. 1 AO es nicht, die Abgabe von Steuererklärungen für nachfolgende Besteuerungszeiträume zu unterlassen. Allerdings besteht für die zutreffenden Angaben des Steuerpflichtigen, soweit sie zu einer mittelbaren Selbstbelastung für die zurückliegenden strafbefangenen Besteuerungszeiträume führen, ein strafrechtliches Verwendungsverbot.

 

Sachverhalt

Die Angeklagte unterließ es pflichtwidrig, für 1995 und 1996 Einkommensteuererklärungen abzugeben, was zu Steuerverkürzungen von mehr als 3 Mio. DM führte. Gegen sie war bereits 1995 ein Steuerstrafverfahren wegen des Verdachts der Hinterziehung von Umsatzsteuer 1993 und 1994 sowie Einkommensteuer 1993 eingeleitet worden. In der Folgezeit wurde das Steuerstrafverfahren mehrfach erweitert, unter anderem auch auf den Vorwurf der Einkommensteuerhinterziehung 1995 und 1996 durch Nichtabgabe der entsprechenden Steuererklärungen.

 

Entscheidung

Der BGH hat die Revision der Angeklagten als unbegründet verworfen. Die Pflicht zur Abgabe der Einkommensteuererklärungen für 1995 und 1996 war nicht unter dem Gesichtspunkt suspendiert, dass niemand gezwungen werden darf, sich selbst anzuklagen oder gegen sich selbst Zeugnis abzulegen[1].

Soweit zutreffende Angaben in den Erklärungen mittelbar zu einer Selbstbelastung des Steuerpflichtigen hinsichtlich zurückliegender Besteuerungszeiträume oder anderer Steuerarten führen, dürfen diese Angaben prinzipiell nicht gegen seinen Willen in einem Strafverfahren gegen ihn verwendet werden. Der Pflichtige muss grundsätzlich seine steuerlichen Erklärungspflichten[2] erfüllen, ohne Rücksicht darauf, ob er hierdurch eigene Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten aufdeckt. Diese weitgehenden Erklärungs- und Mitwirkungspflichten sind im Hinblick auf die Steuergerechtigkeit und die Notwendigkeit eines gesicherten Steueraufkommens für den Staat sachlich gerechtfertigt. Der Steuerpflichtige wird durch das in § 393 Abs. 1 AO verankerte Zwangsmittelverbot in diesem Zusammenhang ausreichend geschützt.

Das Zwangsmittelverbot findet inhaltlich jedoch dort seine Grenze, wo es nicht mehr um ein bereits begangenes steuerliches Fehlverhalten des Betroffenen geht, für das ein Steuerstrafverfahren bereits eingeleitet ist. Eine Ausnahme von der strafbewehrten Pflicht, vollständige und wahrheitsgemäße Angaben im Besteuerungsverfahren zu machen, ist aus diesem Grund nur anzuerkennen, wenn hinsichtlich derselben Steuerart und desselben Besteuerungszeitraums, für den bereits ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, weitere Erklärungspflichten bestehen. Anderenfalls würde – durch Nichtabgabe von oder durch falsche Angaben in Steuererklärungen – neues Unrecht geschaffen, wozu das Recht auf Selbstschutz nicht berechtigt; zudem würde der Täter gegenüber anderen Steuerpflichtigen ungerechtfertigt besser gestellt[3].

Zwar besteht auch für den Steuerpflichtigen, gegen den wegen einzelner Steuerabschnitte ein Steuerstrafverfahren geführt wird, durch die Pflicht zur Abgabe von wahrheitsgemäßen Steuererklärungen für die folgenden Besteuerungszeiträume eine Konfliktsituation. Kommt er seiner Verpflichtung nicht nach oder macht er erneut falsche Angaben, begeht er gegebenenfalls eine weitere Steuerhinterziehung. Erklärt er nunmehr vollständig und wahrheitsgemäß, besteht die Möglichkeit, dass seine Angaben Rückschlüsse auf die tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen für die strafbefangenen Besteuerungszeiträume zulassen. Dies kann dazu führen, dass der Steuerpflichtige sich mittelbar selbst belastet. Die Erfüllung der steuerrechtlichen Offenbarungspflichten ist dem Steuerpflichtigen nur dann zumutbar, wenn die – im Besteuerungsverfahren erzwingbaren – Angaben in einem Strafverfahren nicht gegen ihn verwendet werden dürfen[4]. Das Verbot des Selbstbelastungszwangs führt daher dazu, dass die Erklärungen eines Beschuldigten, die er in Erfüllung seiner weiterbestehenden steuerrechtlichen Pflichten für nicht strafbefangene Besteuerungszeiträume und Steuerarten gegenüber den Finanzbehörden macht, allein im Besteuerungsverfahren verwendet werden dürfen. Für das laufende Strafverfahren dürfen diese Informationen, soweit sie unmittelbar oder auch mittelbar zum Nachweis einer Steuerhinterziehung für die zurückliegenden Steuerjahre führen können, nicht herangezogen werden. Im vorliegenden Fall hatte die Angeklagte aber überhaupt keine Erklärungen abgegeben. Dementsprechend konnte sie sich auch nicht auf § 393 Abs. 1 AO berufen.

 

Praxishinweis

Auch die relativ späte Erweiterung des Ermittlungsverfahrens auf die Jahre 1995 und 1996 hält der BGH nicht für bedenklich. Denn bei der Beurteilung der Frage, ob zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die einen Anfangsverdacht[5] begründen, steht den Ermittlungsbehörden ein Beurteilungsspielraum zu[6]. Lediglich bei völlig sachfremden Gründen könnte sich hieraus ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens[7] ergeben. Solch missbräuchliches ...

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