Nordirland (NI) hat – anders als Großbritannien (GB) als der restliche Teil des VK[1] – eine Landgrenze mit Irland und damit mit der EU. An dieser Grenze gibt es mehr als 200 Übergänge und manche Straßen führen mehrfach über die Grenze. Die Menschen und die Wirtschaft haben sich daran gewöhnt, dass sie ohne Zollkontrollen die Grenze passieren und Waren in beide Richtungen befördern können. Die Einführung von Grenzförmlichkeiten und -kontrollen hätte deshalb katastrophale Folgen für die Insel und den Friedensprozess.[2] Aus diesem Grunde haben sich die Verhandlungen über die Austrittsvereinbarung stark auf die Frage konzentriert, wie Behinderungen des Warenverkehrs zwischen NI und Irland (und damit der EU) vermieden werden können. Im ersten, unter Premierministerin May ausgehandelten Entwurf der Austrittsvereinbarung war deshalb der sog. Backstop vorgesehen, der eine Sonderregelung (die auf dem Grundsatz beruhte, dass NI die EU-Regeln einhält) festlegte, die so lange dauern sollte, bis zwischen der EU und dem VK eine andere Lösung (sog. "alternative arrangements") vereinbart worden war, die Behinderungen an der Grenze zwischen NI und Irland vermeidet. Da bei realistischer Betrachtung eine solche Lösung zwischen zwei Gebieten mit unterschiedlichen Zoll- und Außenhandelsregeln nicht möglich ist,[3] wäre NI auf Dauer an die EU-Regeln (und indirekt auch das VK, wenn es Behinderungen zwischen NI und GB vermeiden wollte) gebunden gewesen. Dies war einer der Gründe dafür, warum die ursprüngliche Fassung der Austrittsvereinbarung im Parlament des VK gescheitert ist. Die unter Premierminister Johnson ausgehandelte Fassung des NI-Protokolls ermöglicht dagegen einen einseitigen Austritt aus dem NI-Protokoll, der aber an die Zustimmung der maßgebenden politischen Parteien im NI-Parlament gebunden ist. Diese Lösung erschwert zumindest einen Austritt sehr, weil diejenigen, die einen Anschluss an Irland anstreben, keiner Lösung zustimmen werden, die zur Errichtung einer Grenze zwischen NI und Irland führen würde, was die Folge eines Austritts aus dem NI-Protokoll wäre. Trotz widersprüchlicher Formulierungen im Protokoll werden im Handel mit Waren (also nicht in Bezug auf Dienstleistungen) zwischen der EU und NI grundsätzlich die EU-Regeln angewendet und NI behandelt seine Exporte nach GB und seine Importe aus GB gleichfalls nach den EU-Regeln, während das VK in Bezug auf Importe aus NI und seine Exporte nach NI im Protokoll keine Verpflichtungen eingeht und diese Importe bzw. Exporte deshalb grundsätzlich wie normale Transaktionen innerhalb des VK behandeln kann. Die widersprüchlichen Formulierungen (die eine Quelle von Meinungsverschiedenheiten zwischen der EU und dem VK sind) wurden wohl einerseits verwendet, um innerhalb kurzer Frist einen Verhandlungserfolg zu ermöglichen, und andererseits, um die Erstreckung von Handelsabkommen des VK auf NI zu ermöglichen, obwohl NI de facto an das Zollgebiet der EU angeschlossen ist. Das VK darf mit Drittländern Handelsabkommen abschließen, die das Territorium von NI einschließen. Diese hybride Lösung hat natürlich zahlreiche Auslegungsfragen, Umgehungsmöglichkeiten und praktische Probleme zur Folge. Dabei liegt der Schwerpunkt der Probleme zurzeit in den – zuvor nicht bestehenden – Grenzformalitäten für das Verbringen von Waren aus GB nach NI bzw. von NI nach GB (sog. "Irish sea border"), weil NI aufgrund des NI-Protokolls verpflichtet ist, auch insoweit die Einfuhr- und Ausfuhrregeln der EU anzuwenden. Die Verhandlungen darüber, inwieweit für solche Warenbewegungen Erleichterungen gegenüber den allgemeinen EU-Regeln zulässig sind, konnten noch nicht abgeschlossen werden. Die EU hat der einseitigen Erklärung des VK zugestimmt, es werde in Bezug auf Fleischerzeugnisse, die ausschließlich für den NI-Markt bestimmt sind, bis Ende September 2021 die EU-Regeln (noch) nicht anwenden, aber stattdessen ein besonderes Kontrollverfahren (Beschluss (EU) 2021/1157, ABl. L 249 vom 14.07.2021, 99). Dieser Beitrag behandelt allein den Warenverkehr – also nicht den Dienstleistungsverkehr – zwischen NI und GB, da der Dienstleistungsverkehr nicht Gegenstand des NI-Protokolls ist. Die Frage, inwieweit es nach dem WTO-Recht zulässig ist, dass im Zollgebiet eines WTO-Mitglieds (hier: VK) teilweise die zoll- und zolltarifrechtlichen Regelungen eines anderen WTO-Mitglieds (hier: EU) gelten, wird in diesem Beitrag bewusst ausgeklammert.

Einführer und Ausführer in NI sind in doppelter Hinsicht mit administrativen Hemmnissen konfrontiert:

  • Im Handel mit anderen Gebieten als der EU und Großbritannien müssen sie jeweils ermitteln, ob die EU- oder die VK-Regeln (und insbesondere die für die EU oder das VK geltenden Zölle) anwendbar sind,
  • im Handel mit Großbritannien müssen sie die Ein- und Ausfuhrregeln der EU anwenden, soweit nicht eine Ausnahme festgelegt wurde.

Die Regierung des VK stellt ihnen deshalb kostenlos den "Trader Support Service" (https://www.gov.uk/guidance/trader-support-service) zur Verfügung, der...

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