Dr. Holger Niehaus, Dr. Peter Kotz
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Die praktisch am häufigsten vorkommende Begründung für das Fernbleiben von der HV ist die Erkrankung des Angeklagten. |
2. |
Führt die Erkrankung zur Verhandlungsunfähigkeit, entschuldigt sie den Angeklagten regelmäßig, schon weil dieser aus Art. 6 Abs. 3 Buchst c EMRK (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) ein Recht darauf hat, sich vor Gericht selbst zu verteidigen. |
3. |
Das Ausbleiben des Angeklagten in der HV ist aber auch dann entschuldigt, wenn er das seinem Erscheinen in der HV entgegenstehende Hindernis selbst herbeigeführt hat. |
4. |
Eine Erkrankung entschuldigt den Angeklagten nicht nur dann, wenn er nicht verhandlungs- oder reiseunfähig ist; vielmehr genügt es, wenn das Erscheinen vor Gericht wegen der Erkrankung unzumutbar ist. |
Rdn 155
Literaturhinweise:
s. die Hinw. bei → Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Allgemeines, Teil A Rdn 58.
Rdn 156
1. Die praktisch am häufigsten vorkommende Begründung für das Fernbleiben von der HV ist die Erkrankung des Angeklagten, also die Geltendmachung einer Befindlichkeits- oder Funktionsstörung von Körper oder Seele. Bei psychischen Erkrankungen kann das Berufungsgericht die ärztlicherseits attestierte Verhandlungsunfähigkeit i.d.R. nicht mit eigener Sachkunde verneinen (BayObLG, Beschl. v. 14.2.2002 – 5St RR 21/02).
☆ Wenn die Berufung wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten nach § 329 Abs. 1 verworfen werden soll, muss das Gericht einen Arzt als Sachverständigen hören (§ 329 Abs. 1 S. 3). Die Anhörung kann im Freibeweisverfahren erfolgen ( Spitzer StV 2016, 48, 53).Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten nach § 329 Abs. 1 verworfen werden soll, muss das Gericht einen Arzt als Sachverständigen hören (§ 329 Abs. 1 S. 3). Die Anhörung kann im Freibeweisverfahren erfolgen (Spitzer StV 2016, 48, 53).
Rdn 157
2. Führt die Erkrankung zur Verhandlungsunfähigkeit, entschuldigt sie den Angeklagten regelmäßig, schon weil dieser aus Art. 6 Abs. 3 Buchst c EMRK (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) ein Recht darauf hat, sich vor Gericht selbst zu verteidigen.
☆ Dem verhandlungs unfähigen Angeklagten kann nicht vorgeworfen werden, eine die Verhandlungsunfähigkeit beseitigende Therapie wegen erheblicher Eingriffe in seine körperliche Integrität oder seine Persönlichkeitsrechte unterlassen (BVerfGE 89, 120 = StV 1993, 620; BayObLG NJW 1999, 3424; OLG Köln NStZ-RR 2009, 86; a.A. zu § 231a LG Lüneburg NStZ-RR 2010, 211) oder einen Facharzt nicht rechtzeitig aufgesucht zu haben (OLG Köln, Beschl. v. 12.3.2010 – 2 Ws 143/10), umso weniger, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass dies gerade durch den schlechten Gesundheitszustand verhindert wurde (OLG Hamm, Beschl. v. 21.11.2000 – 4 Ss 792/00). Bedenklich deshalb OLG Hamm NJW 1970, 1245, weil das Entschuldigtsein u.a. damit verneint wurde, der Angeklagte sei einer klinischen Untersuchung jahrelang ausgewichen.unfähigen Angeklagten kann nicht vorgeworfen werden, eine die Verhandlungsunfähigkeit beseitigende Therapie wegen erheblicher Eingriffe in seine körperliche Integrität oder seine Persönlichkeitsrechte unterlassen (BVerfGE 89, 120 = StV 1993, 620; BayObLG NJW 1999, 3424; OLG Köln NStZ-RR 2009, 86; a.A. zu § 231a LG Lüneburg NStZ-RR 2010, 211) oder einen Facharzt nicht rechtzeitig aufgesucht zu haben (OLG Köln, Beschl. v. 12.3.2010 – 2 Ws 143/10), umso weniger, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass dies gerade durch den schlechten Gesundheitszustand verhindert wurde (OLG Hamm, Beschl. v. 21.11.2000 – 4 Ss 792/00). Bedenklich deshalb OLG Hamm NJW 1970, 1245, weil das Entschuldigtsein u.a. damit verneint wurde, der Angeklagte sei einer klinischen Untersuchung jahrelang ausgewichen.
Rdn 158
3. Das Ausbleiben des Angeklagten in der HV ist aber auch dann entschuldigt, wenn er das seinem Erscheinen in der HV entgegenstehende Hindernis selbst herbeigeführt hat, da ihm nicht zur Last gelegt werden kann, dass er bei der polizeilichen Festnahme in anderer Sache Widerstand leistete und wegen der dabei erlittenen Verletzungen eine Krankenhausbehandlung erforderlich wurde (OLG Düsseldorf StraFo 2001, 269).
Rdn 159
4. Eine Erkrankung entschuldigt den Angeklagten nicht nur dann, wenn er nicht verhandlungs- oder reiseunfähig ist; vielmehr genügt es, wenn das Erscheinen vor Gericht wegen der Erkrankung unzumutbar ist (OLG Brandenburg, Beschl. v. 28.6.2018 – (2) Ss 61/18 (26/18), StraFo 2020, 71; OLG Düsseldorf StV 1987, 9; OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 2.11.2015 – 1 Ss 312/15; OLG Hamm VRS 107, 206; OLG Rostock StraFo 2001, 417), was auch für den Fall gilt, dass sich der krankhafte Zustand infolge der Teilnahme an der HV verschlimmern könnte (OLG Stuttgart VRS 106, 209). Unzulässig ist es, wenn das Gericht die Zumutbarkeit des Erscheinens zum Nachteil des Beschwerdeführers daraus folgert, dass er sich rechtzeitig um eine ärztliche Bescheinigung und deren Weiterleitung an seinen Verteidiger bemüht hat, weil es auf diese Weise dessen ordnungsgemäßes Verhalten gegen ihn wendet (KG, Beschl. v. 17.2.200...