Dr. Holger Niehaus, Dr. Peter Kotz
Rdn 1742
Literaturhinweise:
s. die Hinw. bei → Rechtsmittel/Rechtsbehelfe, Verzicht, Allgemeines, Teil A Rdn 1736.
Rdn 1743
1. Sehr häufig erfolgt der Rechtsmittelverzicht in der Praxis einfach dadurch, dass der Rechtsmittelbefugte die Einlegungsfrist des Rechtsmittels verstreichen lässt (konkludenter Verzicht); andernfalls, z.B. in der HV, wird der Verzicht ausdrücklich erklärt.
Rdn 1744
2. Ebenso wie bei der Erklärung über die Einlegung des Rechtsmittels (→ Rechtsmittel/Rechtsbehelfe, Einlegung, Teil A Rdn 1465 ff.) muss auch der Verzicht darauf inhaltlich eindeutig und zweifelsfrei sein. Es muss ein Verzichtswille (KG NStZ-RR 2010, 115) festgestellt werden können.
Rdn 1745
3.a) Der Rechtsmittelverzicht stellt eine prozessuale Bewirkungshandlung (Prozesshandlung) dar, die erhebliche Rechtsfolgen zeitigt (→ Rechtsmittel/Rechtsbehelfe, Verzicht, Allgemeines, Teil A Rdn 1735 ff.). Er ist darin sowohl vergleichbar mit der Rücknahme des Rechtsmittels (→ Rechtsmittel/Rechtsbehelfe, Rücknahme, Allgemeines, Teil A Rdn 1656 ff.) als auch mit dessen Beschränkung (→ Berufung, Beschränkung, Allgemeines, Teil A Rdn 227 ff.), weshalb die dort entwickelten Grundsätze entsprechend auf den Verzicht angewendet werden können.
Es gelten folgende Wirksamkeitsvoraussetzungen:
Rdn 1746
b) Bei einem nicht verteidigten Angeklagten setzt die Wirksamkeit des Verzichts eine zutreffende Rechtsmittelbelehrung voraus (§ 35a S. 1; → Rechtsmittel/Rechtsbehelfe, Belehrung, Teil A Rdn 1336 ff.). Bei einem verteidigten Angeklagten wird sie für entbehrlich gehalten (BGH NStZ-RR 2000, 38 [K]; NStZ 2006, 351; Meyer-Goßner/Schmitt, § 302 Rn 23).
Rdn 1747
c) Bezogen auf die Person des Angeklagten setzt der Verzicht prozessuale Handlungsfähigkeit (zur "Verhandlungsfähigkeit" Burhoff, HV, Rn 3479 ff.) voraus.
Rdn 1748
aa) Prüfungsanlass kann bestehen, wenn sich daran Zweifel – speziell beim nicht verteidigten – Angeklagten ergeben, wobei solche Zweifel im Ergebnis nur dann zur Unwirksamkeit führen, wenn eine Einschränkung der prozessualen Handlungsfähigkeit (i.d.R. im Freibeweisverfahren) festgestellt wird. Das ist z.B. bejaht worden bei einer angeordneten Maßregel nach § 63 StGB gegen einen Angeklagten, dessen Steuerungsfähigkeit wegen eines schweren psychischen Defekts bei der Begehung von durch Willenserklärungen geprägten Straftaten aufgehoben war (BGH wistra 2011, 236). Verneint hat die Rspr. das bei alleiniger Beeinträchtigung der Geschäfts- oder Schuldfähigkeit des Erklärenden, weil diese nicht zwangsläufig dessen prozessuale Handlungsunfähigkeit zur Folge haben muss (u.a. BGH, Beschl. v. 23.5.2023 – 2 StR 469/22, NStZ 2023, 699 m.w.N.; NStZ-RR 2016, 180; 2017, 92).
☆ Wird der Verteidiger in einem derartigen Zweifelsfall erstmals nach erfolgter Rücknahmeerklärung eingeschaltet, ist das Rechtsmittel zusammen mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (→ Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Antrag , Teil B Rdn 1527 ff.) einzulegen (OLG Jena NJW 2003, 3071).Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (→ Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Antrag, Teil B Rdn 1527 ff.) einzulegen (OLG Jena NJW 2003, 3071).
Rdn 1749
bb) Notwendige Verteidigung. (Zu Unrecht) umstr. ist die Frage ihrer Wirksamkeit, wenn die Verzichtserklärung im Anschluss an eine HV abgegeben wurde, die trotz notwendiger Verteidigung gleichwohl ohne Verteidiger stattgefunden hatte (Burhoff, HV, Rn 2694 ff.). Insoweit gilt folgende
Rdn 1750
Rechtsprechungsübersicht:
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Mit zutreffenden Gründen folgert die weitaus überwiegende Meinung in Rspr. und Lit. aus dem Anspruch des Angeklagten auf ein faires Verfahren und aus der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts, dass ein unter diesen Voraussetzungen erklärter Rechtsmittelverzicht von Anfang an unwirksam ist (BayObLG NStE Nr. 20 zu § 302 StPO; KG StV 1998, 646; 2006, 685; 2013, 11; OLG Bremen StV 1984; OLG Celle StV 2013, 12 [Ls]; Beschl. v. 4.5.2023 – 2 Ws 135/23, StraFo 2023, 355; OLG Düsseldorf NStZ 1995, 147; StV 1998, 647; StV 1993, 237; VRS 97, 357; OLG Frankfurt am Main NStZ 1993, 507; StV 1991, 296; OLG Hamm StraFo 2009, 290; OLG Koblenz StraFo 2006, 27; OLG Köln StV 1998, 645; 2003, 65; 2004, 68 [Ls.]; NStZ-RR 1997, 336; OLG München [5. Ss] NJW 2006, 789 m. Anm. KleinBauer wistra 2007, 38 [a.A. 2. Ss NStZ-RR 2010, 19]; OLG Naumburg [2. Ss] StraFo 2011, 517 [a.A. 1. Ss NJW 2001, 2190]; KMR-Plöd, § 302 Rn 19; Meyer-Goßner/Schmitt, § 302 Rn 25a; SK-StPO/Frisch, § 302 Rn 29). |
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Dagegen stellen das OLG Brandenburg (StraFo 2001, 136) und das OLG München [2. Ss] (NStZ-RR 2010, 19) ohne Berücksichtigung von Verfahrensfairness und Fürsorgepflicht allein darauf ab, ob der Angeklagte prozessual handlungsfähig war, und bejahen dies, wenn sich gegenteilige Anhaltspunkte aus der Akte nicht ergeben. Sie teilen dabei im Ergebnis die Auffassung des OLG Hamburg (StV 1998, 641), der zufolge jeder Angeklagte frei darüber entscheiden könne, ob er auf ein Rechtsmittel verzichte, vorausgesetzt, er sei sich der Bedeutung und Tragweite ... |