Dr. Holger Niehaus, Dr. Peter Kotz
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Das Bestehen eines Verteidigungsverhältnisses spielt im Zusammenhang mit dem Rechtsmittelverzicht u.a. auch eine Rolle hinsichtlich des Beratungsanspruchs des Angeklagten und der Frage der notwendigen Verteidigung. |
2. |
Gem. § 302 Abs. 2 bedarf der Rechtsmittelverzicht durch den Verteidiger einer Ermächtigung durch den rechtsmittelbefugten Angeklagten. |
3. |
Bei widerstreitenden Erklärungen von Angeklagtem und Verteidiger ist stets der Wille des rechtsmittelbefugten Angeklagten maßgeblich ist. |
Rdn 1755
Literaturhinweise:
s. die Hinw. bei → Rechtsmittel/Rechtsbehelfe, Verzicht, Allgemeines, Teil A Rdn 1736.
Rdn 1756
1. Das Bestehen eines Verteidigungsverhältnisses spielt im Zusammenhang mit dem Rechtsmittelverzicht u.a. auch eine Rolle bezüglich des Beratungsanspruchs eines Angeklagten (→ Rechtsbehelfe/Rechtsmittel, Verzicht, Zeitpunkt, Teil A Rdn 1764 ff.) und der Anwesenheit des (notwendigen) Verteidigers in der vor dem Urteil stattgehabten HV (→ Rechtsbehelfe/Rechtsmittel, Verzicht, Erklärung, Teil A Rdn 1741 ff.).
Rdn 1757
2.a) Gem. § 302 Abs. 2 bedarf der Rechtsmittelverzicht durch den Verteidiger einer Ermächtigung durch den rechtsmittelbefugten Angeklagten.
Rdn 1758
b) Wirksam ist die Ermächtigung, wenn der Ermächtigende prozessual handlungsfähig ist (BGH NStZ 1983, 280; 2017, 487; NStZ-RR 2004, 341; → Rechtsbehelfe/Rechtsmittel, Verzicht, Erklärung, Teil A Rdn 1741 ff.) und die Ermächtigung zum Zeitpunkt der Abgabe der Verzichtserklärung besteht. Eine nachträgliche Genehmigung ist nicht möglich (OLG Zweibrücken StraFo 2010, 252). Die Ermächtigung darf auch nicht widerrufen sein (BGH Beschl. v. 25.5.2021 – 5 StR 32/21, StV 2021, 800 [Ls.]; NStZ-RR 2007, 151; Meyer-Goßner/Schmitt, § 302 Rn 34 f.).
Rdn 1759
c) Eine bestimmte Form für den Verzicht schreibt die StPO nicht vor. Die Ermächtigung kann daher auch mündlich oder fernmündlich erteilt werden (BGH NStZ 2017, 487; NStZ-RR 2017, 185; Meyer-Goßner/Schmitt, § 302 Rn 32 m.w.N.).
Rdn 1760
d) Die schriftliche Ermächtigung muss sich nicht bei der Akte befinden (OLG Oldenburg VRS 120, 337) und kann auch erst nach Abgabe der Verzichtserklärung nachgewiesen werden (u.a. BGH NStZ-RR 2010, 55).
Rdn 1761
e) Die in einer allgemeinen Verteidigervollmacht enthaltene Ermächtigung zum Verzicht auf Rechtsmittel/Rechtsbehelfe reicht nicht aus (OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 7.12.2020 – 2 Ss-OWi 1347/20; NStZ-RR 2021, 83); die Ermächtigung muss vielmehr das Rechtsmittel/den Rechtsbehelf, auf dessen Einlegung der Verteidiger verzichten können soll, konkret bezeichnen (BGH NStZ 2000, 665; Schifffahrtsobergericht Berlin NJW 2009, 1686; KG StV 2016, 182; OLG Hamm NStZ 2016, 106; OLG Jena zfs 2007, 412; a.A. OLG Hamm VA 2005, 183 [Ls.], was sich nach BayVerfGH, Beschl. v. 27.10.2011 – Vf. 138-VI-10, in dem den Fachgerichten eingeräumten Auslegungsspielraum hält).
Rdn 1762
3. Aus der Zusammenschau der §§ 297, 302 Abs. 2 folgt, dass bei widerstreitenden Erklärungen von Angeklagtem und Verteidiger stets der Wille des rechtsmittelbefugten Angeklagten maßgeblich ist, auch wenn der Verteidiger eine andere Auffassung vertritt.
Rdn 1763
Beispiel:
Der Angeklagte wurde verurteilt. Der Verteidiger sieht die gesteckten Verteidigungsziele erreicht und äußert sich gegenüber dem Gericht: "Das Urteil werden wir annehmen". Der Angeklagte, dem seine im Zuschauerraum sitzende Ehefrau durch Kopfschütteln davon abrät, schweigt.
Ein vom Verteidiger erklärter Rechtsmittelverzicht bedarf bei der Fallgestaltung der ausdrücklichen Zustimmung des Angeklagten. Erklärt sich dieser nicht, ist die durch den Verteidiger abgegebene Verzichtserklärung unwirksam, da allein der fehlende Widerspruch durch den Angeklagten nicht ausreicht (BayObLG NStZ 1995, 142).
Siehe auch: → Rechtsmittel/Rechtsbehelfe, Verzicht, Allgemeines, Teil A Rdn 175 m.w.N.