Dr. Holger Niehaus, Dr. Peter Kotz
Das Wichtigste in Kürze:
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Ausgeblieben ist der Angeklagte/Betroffene, wenn er nicht zeitnah körperlich vor Gericht erschienen ist. |
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Besonderheiten sind z.B. zu beachten, wenn der Angeklagte körperlich rechtzeitig erschienen ist, jedoch keine Angaben zur Person und zur Sache macht. |
Rdn 180
Literaturhinweise:
s. die Hinw. bei → Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Allgemeines, Teil A Rdn 58.
Rdn 181
1. Ausgeblieben ist der Angeklagte/Betroffene, wenn er nicht zeitnah (zur Verspätung → Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Verspätung, Teil A Rdn 192) körperlich vor Gericht erschienen ist. Der Zeitpunkt, zu dem er erschienen sein muss, ist streitig. Während Teile der Rspr. die angesetzte Terminsstunde als Ausgangspunkt der Beurteilung heranziehen (OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 303; OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 2012, 258), legen andere Stimmen den Aufruf der Sache zugrunde (OLG Hamburg, Besch. v. 25.1.2018 – 2 Rev 96/17, NStZ 2018, 559; OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 2001, 85; Burhoff, HV, Rn 820 ff.; MüKoStPO/Quentin, § 329 Rn 20; Graf/Eschelbach, § 329 Rn 18; KK/Paul, § 329 Rn 4). Letzteres ist zutreffend, denn nach dem Gesetz (§ 243 Abs. 1 S. 1) "beginnt die Hauptverhandlung" mit dem Aufruf der Sache.
Rdn 182
2.a) Besonderheiten sind zu beachten, wenn der Angeklagte körperlich rechtzeitig
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erschienen ist, jedoch keine Angaben zur Person und zur Sache macht (Teil A Rdn 183), |
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"incognito" zur HV erscheint und sich auch bei Aufruf der Sache nicht zu erkennen gibt, |
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erschienen ist und auf die Frage, ob er der Angeklagte sei, dies wahrheitswidrig verneint, |
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erschienen ist, sich aber vor Erscheinen des Gerichts wieder entfernt hat (Teil A Rdn 184), |
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erschienen, aber verhandlungsunfähig ist, weil er sich selbst in einen Zustand der Verhandlungsunfähigkeit versetzt hatte (Alkohol: BGHSt 23, 331; BayObLG NStZ-RR 1998, 368; Psychopharmaka: OLG Köln VRS 65, 47), was allerdings dann nicht zur Verwerfung der Berufung führen kann, wenn sich die Verhandlungsunfähigkeit erst während der HV aufgrund einer Beweisaufnahme feststellen lässt ("Beginn der Hauptverhandlung"; KG, Beschl. v. 12.9.2000 – (4) 1 Ss 107/00 (138/00); OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 2005, 174; § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 3), |
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erschienen ist und seine Verhandlungsunfähigkeit nur vorspiegelt |
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in den (Verwerfungs-)Fällen des § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 1–3 (Teil A Rdn 185 ff.; wegen der Einzelh. Spitzer StV 2016, 48, 51 ff.). |
Rdn 183
b) Ist der Angeklagte erschienen, macht er jedoch keine Angaben zur Person und zur Sache, gilt: Eine wirksame Ladung statuiert lediglich die öffentlich-rechtliche Verpflichtung zum (rechtzeitigen) Erscheinen vor Gericht. Dort steht dem Angeklagten ein umfassendes Schweigerecht zu (Burhoff, HV, Rn 821; KK/Paul, § 243 Rn 4; SK-StPO/Frister, § 243 Rn 27). Lediglich zu den Angaben, die eine Feststellung der Identität ermöglichen, ist der Angeklagte verpflichtet (auch § 111 Abs. 1 OWiG). Auch diese Angaben sind aber mit den Mitteln der StPO nicht erzwingbar (BeckOK/Gorf, § 243 Rn 14). Allein das passive Erdulden der HV als Angeklagter führt daher nicht zur Verwerfung von Berufung oder Einspruch (MüKo-StPO/Quentin, § 329 Rn 24), weil dadurch eine Sachentscheidung nicht verhindert wird. Das Gericht muss sich mit den Angaben zur Person zufriedengeben, über die es aus dem Akteninhalt verfügt. Dagegen ist die sich bei den übrigen Konstellationen stellende Frage nach der Anwesenheit des Angeklagten vor dem Hintergrund des Regelungszwecks des § 329 Abs. 1 und der in ihm enthaltenen Fiktion der fehlenden Verfolgungsabsicht des Rechtsmittels zu beantworten und führt in diesen Fällen zu dem Ergebnis, dass der Angeklagte als ausgeblieben behandelt werden darf, weil er durch sein Handeln/Unterlassen das Ergehen einer Sachentscheidung vereitelt hat bzw. verhindern will.
Rdn 184
c) Ausgeblieben ist auch der rechtzeitig zur Terminsstunde erschienene Angeklagte, der sich vor Beginn der HV aufgrund einer Verspätung des Gerichts über die festgesetzte Terminsstunde hinaus wieder entfernt, weil dieser Umstand dem Angeklagten kein Recht auf Aussetzung gibt und deshalb, sofern sich die Verzögerung in vernünftigen Grenzen hält, durch den Angeklagten und seinen Verteidiger von vornherein bei der zeitlichen Terminplanung berücksichtigt werden muss (für 45 Minuten OLG Hamm, Beschl. v. 8.6.2005 – 3 Ss 247/05 u. 3 Ws 188/05; für 15 Minuten OLG Koblenz, Beschl. v. 10.1.2000 – 1 Ws 3/00). Dies gilt auch, wenn der ebenfalls auf den Aufruf der Sache wartende Verteidiger sagt: "Kommen Sie, wir gehen" (OLG Hamm VRS 55, 275; s.a. "Verteidigerauskunft" in→ Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Endgültiges A – Z, Teil A Rdn 137 ff.).
Rdn 185
d) Verwerfungsfälle nach § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 1–3
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Nach Nr. 1 ist zu verwerfen, wenn sich bei unentschuldigt abwesendem Angeklagten (dazu → Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, genügend entschuldigt, Teil A Rdn 170) der Verteidiger unentschuldigt entfernt hat oder den Angeklagten nicht weiter vertritt. Letzteres betrifft zum einen den a... |