Dr. Holger Niehaus, Dr. Peter Kotz
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Das Problem der "Rügeverkümmerung" stellt sich, wenn das Tatgericht nach Erhebung einer Revisionsrüge eine Protokollberichtigung vornehmen will, die der bereits erhobenen Rüge den Boden entzieht. |
2. |
Für das im Rahmen einer Protokollberichtigung einzuhaltende Verfahren hat der Große Senat für Strafsachen allerdings bestimmte Regeln aufgestellt, die die Richtigkeit einer nachträglichen Änderung des Protokolls gewährleisten und Effektivität der Revision sichern sollen. |
3. |
Die Entscheidung des Großen Senats ist von großer Bedeutung für das Revisionsverfahren und die in § 274 normierte absolute Beweiskraft des Protokolls. Der Verteidiger hat sich auf sie einzustellen. |
Rdn 2212
Literaturhinweise:
Jahn/Widmaier, BGH v. 12.1.2006 – 1 StR 466/05, Anfragebeschluss: Verwertbarkeit des Hauptverhandlungsprotokolls nach Berichtigung gegen den Revisionsführer, JR 2006, 166
Krawczyk, Der Anfragebeschluss des 1. Strafsenats des BGH vom 12.1.2006 zur Beachtlichkeit nachträglicher Protokollberichtigungen – Steht der Revisionspraxis eine grundlegende Änderung bevor?, HRRS 2006, 344
Lampe, Unzulässigkeit einer "Rügeverkümmerung", NStZ 2006, 366
s.a. die Hinw. bei → Revision, Allgemeines, Teil A Rdn 2009, und bei Burhoff, HV Rn 2529.
Rdn 2213
1.a) Das Problem der "Rügeverkümmerung" stellt sich, wenn das Tatgericht nach Erhebung einer Revisionsrüge/Verfahrensrüge eine Protokollberichtigung vornehmen will, die der bereits erhobenen Rüge den Boden entzieht. Zwar hat das Hauptverhandlungsprotokoll grds. gem. § 274 (positive und negative) Beweiskraft. Allerdings soll die Berufung des Revisionsführers auf bloße Protokollfehler rechtsmissbräuchlich sein, wenn der Verfahrensablauf in Wirklichkeit ein anderer war und der Revisionsführer dies auch weiß (→ Revision, Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls, Teil A Rdn 2096).
Rdn 2214
b) Lange Zeit war es feststehende Rspr., dass eine nachträgliche Protokollberichtigung, die einer bereits erhobenen Verfahrensrüge den Boden entziehen würde, ausgeschlossen sein soll (s.u.a. BGHSt 2, 125; 34; 11). Auf Betreiben des 1. Strafsenats wurde dann aber dem Großen Senat für Strafsachen die Frage vorgelegt, ob die Beweiskraft eines berichtigten Protokolls nach § 274 auch dann beachtlich sei, wenn die Protokollberichtigung einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge den Boden entziehe (BGH NJW 2006, 3582 m. Anm. Widmaier). Der 2. und 3. Strafsenat hatten unter Aufgabe ihrer bisher entgegenstehenden Rechtsprechung einer solchen Verfahrensweise zugestimmt (BGH NStZ-RR 2006, 275 und BGH, Beschl. v. 22.2.2006 – 3 ARs 1/06). Der 4. und 5. Strafsenat hatten hingegen in ihren Anfragebeschlüssen ausgeführt, dass eine Protokollberichtigung, die einer zulässigen Verfahrensrüge zum Nachteil des Beschwerdeführers den Boden entziehe, nicht berücksichtigt werden dürfe (BGH NStZ-RR 2006, 273).
Rdn 2215
c) Der Große Senat für Strafsachen hat diese Streitfrage dahin gehend entschieden, dass durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls auch zum Nachteil des Beschwerdeführers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen werden kann (BGHSt 51, 298). In seiner für die Rechtspraxis äußerst bedeutsamen Entscheidung hat der Große Senat den Argumenten des 1., 2. und 3. Strafsenats für eine Änderung der Rspr. zum Verbot der Rügeverkümmerung den Vorzug gegeben. Das BVerfG hat bestätigt, dass diese Entscheidung des Großen Senats die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung wahrt (BVerfG NJW 2009, 1469). Im Ergebnis darf also nun durch eine nachträgliche Protokollberichtigung einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen werden.
Rdn 2216
Der Große Senat begründet seine Entscheidung zunächst damit, dass eine umfassende Berücksichtigung der nachträglichen Protokollberichtigung dem Gesetz nicht widerspreche. Zwar lasse § 274 S. 2 als Gegenbeweis gegen Beurkundungen des Protokolls nur den Nachweis der Fälschung zu. Eine Berichtigung durch Erklärungen der Urkundspersonen enthalte jedoch einen Widerruf der früheren Beurkundung und entziehe dieser, soweit die Berichtigung reiche, die absolute Beweiskraft, sodass es eines Gegenbeweises nicht mehr bedürfe (unter Bezugnahme auf RGSt 19, 367, 370). Aus diesem Grund habe die Rechtsprechung auch schon bisher nachträgliche Protokollberichtigungen die einer Verfahrensrüge erst zum Erfolg verhalfen, für beachtlich gehalten (RGSt 19, 367; 57, 394, 396 f.; BGHSt 4, 364, 365; BGH NJW 2001, 3794, 3796; NStZ 1988, 85; OLG Köln NJW 1952, 758).
Rdn 2217
Des Weiteren führt der Große Senat aus, dass das Gesetz keinen Hinweis darauf enthalte, dass durch den Eingang der Revisionsbegründung ein besonderes prozessuales Recht auf Beibehaltung der Tatsachengrundlage für eine Rüge begründet werde. Der Angeklagte habe keinen Anspruch darauf, aus tatsächlich nicht gegebenen Umständen Verfahrensvorteile abzuleiten (BGH NJW 2006, 3579, 3580; Lampe NStZ 2006, 366, 367; AnwKomm-StPO/Lohse § 344 Rn 18). Ein Ve...