Dr. Holger Niehaus, Dr. Peter Kotz
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Erscheint für den Angeklagten ein mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht versehener Verteidiger darf die Berufung nicht verworfen werden. |
2. |
Voraussetzung für die Beschränkung der Verwerfungskompetenz des Berufungsgerichts ist, dass der Angeklagte zu Beginn des Berufungs-HV-Termins von einem mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger vertreten wird. |
3. |
Wird der abwesende Angeklagte durch einen vertretungsbefugten Verteidiger vertreten und darf deshalb seine Berufung nicht (mehr) verworfen werden, ergibt sich für das Berufungsgericht nach § 329 Abs. 2 und 4 eine Prüfungspflicht. |
4. |
Notwendig ist eine allgemeine Prüfung durch das Gericht, ob die Anwesenheit des Angeklagten in der Berufungs-HV erforderlich ist oder nicht. |
5. |
Die in § 329 Abs. 1 geregelte Möglichkeit der Vertretung verhindert die Verwerfung der Berufung nur dann, wenn eine wirksame Vertretungsbefugnis nachgewiesen, ein Vertretungswille erkennbar und der Verteidiger zu Beginn des Hauptverhandlungstermins erschienen ist. |
6. |
Die zulässige und wirksame Vertretung eröffnet für den Verteidiger die Rechte und Pflichten im Umfang des § 234. |
Rdn 203
Literaturhinweise:
s. die Hinw. bei → Berufung, Allgemeines, Teil A Rdn 2
→ Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Allgemeines, Teil A Rdn 58.
Rdn 204
1.a) Erscheint für den Angeklagten ein mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht versehener Verteidiger, darf die Berufung nicht verworfen werden. Nur, wenn der Angeklagte nicht wirksam vertreten ist, dürfen Berufung oder Einspruch also verworfen werden.
Rdn 205
b)aa) Im Strafbefehlsverfahren kann sich der Angeklagte nach § 411 Abs. 2 S. 1 auch in der Berufungs-HV durch einen Vertreter vertreten lassen, selbst wenn nach § 236 das persönliche Erscheinen angeordnet worden ist (OLG Dresden StV 2005, 492 m.w.N.; OLG Düsseldorf StV 1985, 52). Das gilt allerdings nur, wenn das Verfahren durch einen StB eingeleitet worden ist, also nicht im Fall des § 408 Abs. 3 S. 2 (Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 14 m.w.N.).
Rdn 206
bb) Zu den Fragen, die mit der Vertretung und der Verwerfung der Berufung auch in denjenigen Fällen, in denen ein vertretungsbereiter Verteidiger in der HV anwesend ist, verbunden sind, hatte mehrfach der EGMR Stellung genommen. Dieser hat wiederholt das Recht des Angeklagten, sich eines Verteidigers zu bedienen (Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) MRK), betont (u.a. EGMR NJW 2001, 2387; HRRS 2009 Nr. 981; dazu Gundel NJW 2001, 2380; Meyer-Mews NJW 2002, 1928 in den Anm. zu EGMR, a.a.O. m.w.N. zur Rspr. des EGMR). Der Verzicht des Angeklagten auf Teilnahme an der HV bedeute danach nicht automatisch auch den Verzicht, sich zu verteidigen oder sich verteidigen zu lassen. Damit war nach Auffassung des EGMR die Verwerfung der Berufung, die allein an das Nichterscheinen des Angeklagten anknüpfte, konventionswidrig/unzulässig. A.A. waren in der innerstaatlichen Rspr. die Obergerichte, die u.a. unter Hinweis auf die einen Konventionsverstoß ebenfalls ablehnende Rspr. des BVerfG (StraFo 2007, 190) einen Konventionsverstoß verneint haben, da es sich nicht um eine "Abwesenheitsverhandlung" im Berufungsverfahren handele (u.a. BayObLG NStZ-RR 2000, 307; OLG Düsseldorf StV 2013, 299; OLG Hamm StRR 2012, 463). Dazu hatte der EGMR im Verfahren Neziraj noch einmal Stellung genommen und die Abwesenheitsverwerfung nach § 329 Abs. 1 S. 1 a.F. in diesen Fällen als einen Verstoß u.a. gegen Art. 6 Abs. 3 Buch c MRK angesehen (s. NStZ 2013, 350 u.a. m. Anm. Püschel StraFo 2012, 490). In der Folgezeit haben dann zahlreiche OLG die Umsetzung dieser Rspr. ablehnt (KG, Beschl. v. 7.2.2014 – 161 Ss 5/14; OLG Brandenburg StraFo 2015, 70 m.w.N.; OLG Bremen StV 2014, 211; OLG Celle NStZ 2013, 615; OLG München NStZ 2013, 358 m. Anm. Gerst StRR 2013, 146). Begründet worden ist das u.a. mit der Bindung der deutschen Gerichte an geltendes Recht, dieses könne nicht gegen seinen eindeutigen Wortlaut ausgelegt werden. Diese OLG-Rechtsprechung ist in der Lit. kritisiert worden (u.a. Engel ZJS 2013, 327; Esser StV 2013, 331; Gerst NStZ 2013, 310; ders., StRR 2013, 23 in der Anm. zu EGMR, a.a.O.; Hüls/Reichling StV 2014, 242; Zehetgruber HRR 2013, 379; Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 15a; s.a. noch Burhoff StRR 2013, 388 in der Anm. zu OLG Bremen, a.a.O.; zust. Mosbacher NStZ 2013, 312; diff. Ast JZ 2013, 780).
Rdn 207
cc) Durch das "Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe" (BR-Drucks 491/14 = BT-Drucks. 18/3562) wurde § 329 geändert und an die Rspr. des EGMR angepasst.
☆ Danach ergibt sich folgende Regelung :Regelung:
Nach § 329 Abs. 1 und 2 darf eine Verwerfung der Berufung des Angeklagten grds. nicht mehr erfolgen, wenn statt des Angeklagten ein entsprechend bevollmächtigter und vertretungsbereiter Verteidiger in dem Berufungs-HV-Termin erschienen ist. Anstelle der nicht mehr zulässigen Verwerfung wird in Anwesenheit des Verteidigers oh...