Dr. Holger Niehaus, Dr. Peter Kotz
Rdn 565
Literaturhinweise:
Bringewat, Gerichtliches Nachtragsverfahren gem. §§ 460, 462 StPO und das prozessuale Verschlechterungsverbot, NStZ 2009, 542
Drees, Gilt das Verbot der Schlechterstellung auch dann, wenn das Rechtsmittelgericht das Verfahren wegen eines behebbaren Verfahrenshindernisses einstellt?, StV 1995, 669
Meyer-Goßner, Sachliche Unzuständigkeit und Verschlechterungsverbot, in: FS für Klaus Volk zum 65. Geburtstag, München 2009, S. 455 f.
ders., Über das Zusammentreffen verschiedener Rechtsmittel, in: FS für Karl Heinz Gössel zum 70. Geburtstag am 16.10.2002, 2002, S. 650 ff.
Mosbacher, Aktuelles Strafprozessrecht, JuS 2009, 124
s.a. die Hinw. bei → Beschwerde, Allgemeines, Teil A Rdn 401.
Rdn 566
1. Das Verschlechterungsverbot gilt im Beschwerdeverfahren grundsätzlich nicht. Die StPO enthält zwar entsprechende Vorschriften für die Berufung, die Revision und für die Wiederaufnahme des Verfahrens (§§ 331 Abs. 1, 358 Abs. 2, 373 Abs. 2), nicht aber für die Beschwerde (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 7.6.2023 – 1 Ws 105/23, StraFo 2023, 335; LG Arnsberg, Beschl. v. 26.4.2017 – 2 Qs 29/17; LG Zweibrücken, Beschl. v. 2.12.2020 – 1 Qs 33/20, DAR 2021, 417; Meyer-Goßner/Schmitt, vor § 304, Rn 5; KK/Zabeck, § 309, Rn 12). Zudem folgt das Schlechterstellungsverbot nicht unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), sondern stellt lediglich eine kodifizierte Rechtswohltat dar, über deren Gewährung oder Nichtgewährung ausschließlich der Gesetzgeber zu befinden hat (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O.). Eine analoge Anwendung der genannten Vorschriften auf die Beschwerde scheidet deshalb in Ermangelung einer planwidrigen Regelungslücke aus (LG Berlin NJW 2000, 3796).
Rdn 567
2. Die Rechtsprechung hat jedoch Ausnahmen von diesem Grundsatz entwickelt für Beschlüsse, die Rechtsfolgen endgültig festsetzen und der materiellen Rechtskraft fähig sind und daher letztlich urteilsgleiche Wirkungen entfalten (KK/Zabeck a.a.O. m.w.N.).
Rdn 568
a) Dies ist der Fall bei
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Beschlüssen über die Zulässigkeit der Vollstreckung aus einem Gesamtstrafenbeschluss (OLG Frankfurt/Main, NStZ-RR 196, 318); |
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Widerrufsbeschlüssen in Bewährungsverfahren, soweit durch sie die Dauer der noch zu verbüßenden Strafe festgesetzt wird, also insbesondere bei der Anrechnung erbrachter Leistungen nach § 56f Abs. 3 S. 2 StGB (OLG Hamm NStZ 1996, 303 und OLGSt StGB § 56f Nr. 40; OLG München MDR 1980, 517; OLG Nürnberg NStZ-RR 2011, 289; LG Arnsberg a.a.O.); |
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Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe (§ 57a StGB): Lehnt die Strafvollstreckungskammer die Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe ab, spricht aber gleichzeitig aus, dass die Schwere der Schuld des Verurteilten eine weitere Vollstreckung der Strafe nicht mehr gebiete, unterliegt dieser Ausspruch auf ein Rechtsmittel des Verurteilten hin dem Verschlechterungsverbot (OLG Hamm NStZ 1994, 53); |
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nach einer Mindermeinung bei Ordnungsmittelbeschlüssen (OLG Hamm MDR 1960, 946; zur h.M. → Beschwerde, Ordnungsmittel, Teil A Rdn 529). |
Rdn 569
Verneint wird dies inzwischen bei der nachträglichen Gesamtstrafenbildung nach § 460 (LG Lüneburg NStZ 2009, 573; Meyer-Goßner/Schmitt, § 460 Rn 19 m.w.N.; a.A. KK/Zabeck, § 309, Rn 12). Nach § 55 StGB ist die Gesamtstrafe zwingend nachträglich zu bilden, wenn – aus welchem Grund auch immer – ihre Bildung (§§ 53, 54 StGB) bislang unterblieben war; denn der Sinn des Gesamtstrafenprinzips liegt in der Ausschaltung von Verfahrenszufälligkeiten (was wurde wann durch welches Gericht abgeurteilt) und damit in der Gleichbehandlung aller Verurteilten: Niemand soll dadurch besser oder schlechter gestellt werden, dass seine Taten nicht in einem Verfahren abgeurteilt worden sind (BGH, Beschl. v. 17.6.2003 – 2 StR 105/03 m.w.N.).
Dies kann zu einer Erhöhung des Strafübels insbesondere dann führen, wenn aufgrund einer "unerledigten" Verurteilung eine Zäsurwirkung (Fischer § 55 StGB Rn 9) eingetreten ist (LG Lüneburg NStZ a.a.O.).
Rdn 570
b) Von Bedeutung ist das Schlechterstellungsverbot auch in den Fällen des § 116 Abs. 4, wenn nur der Beschuldigte/Angeklagte gegen den Haftbefehl Beschwerde eingelegt hat. Hier darf eine gewährte Haftverschonung jedenfalls dann im Beschwerdeverfahren nicht zurückgenommen werden, wenn sich die Umstände im Vergleich zum Zeitpunkt der ausgesprochenen Haftverschonung nicht geändert haben (BVerfG StV 2006, 26). Dies gilt auch, wenn schon zum damaligen Zeitpunkt mit der später ausgesprochenen – auch höheren – Strafe zu rechnen war, der Beschuldigte aber die ihm erteilten Auflagen korrekt befolgt hat (BGH NStZ 2005, 279, 280). Ein Abstellen allein auf die Höhe der nunmehr verhängten Strafe verletzt Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG (BVerfG StV 2008, 25; OLG Nürnberg StraFo 2011, 224). Deshalb ist auch ein "Nachschlag" bei der Kaution nicht zulässig (OLG Frankfurt am Main StV 2010, 586 [Ls.]).
☆ Wurde eine Maßregel der Besserung und Sicherung zur Bewährung ausgesetzt und erfolgt in...