Dr. Holger Niehaus, Dr. Peter Kotz
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Die Vorschriften über die Annahmeberufung werden nur bei Heranwachsenden relevant, die nach allgemeinem Strafrecht zu einer Geldstrafe verurteilt wurden. Für Jugendliche gelten sie nicht. |
2. |
Eine "Sperrberufung" der StA ist mit dem Beschleunigungsgedanken des Jugendstrafverfahrens nicht vereinbar. |
3. |
Durch das gesonderte Rechtsmittelrecht der Erziehungsberechtigten ergeben sich Besonderheiten beim Nichterscheinen zur Berufungshauptverhandlung. |
Rdn 652
Literaturhinweise:
Krumdiek, Unzulässige Einlegung von Berufungen (sog. Sperrberufungen), StRR 2010, 84
Schäfer, Das Berufungsverfahren in Jugendsachen, NStZ 1998, 330
s.a. die Hinw. bei → JGG-Besonderheiten, Allgemeines, Teil A Rdn 603.
Rdn 653
1. Die Vorschrift des § 313, in dem die Annahmeberufung geregelt ist, findet in Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende, die materiell nach Jugendstrafrecht verurteilt wurden, keine Anwendung (Brunner/Dölling, § 55 Rn 1; Schäfer NStZ 1998, 330, 334; KK/Paul, § 313 Rn 2). Dies gilt jedoch nicht, wenn ein Heranwachsender unter Anwendung des Erwachsenenstrafrechts zu einer Geldstrafe von nicht mehr als 15 Tagessätzen verurteilt wurde (OLG Stuttgart, Beschl. v. 9.3.2009 – 6 Ws 7/09, ZJJ 2009, 156; allgemein → Berufung, Annahmeberufung, Allgemeines, Teil A Rdn 20 ff.; → Berufung, Annahmeberufung, Entscheidung, Teil A Rdn 28 ff.; → Berufung, Annahmeberufung, Verfahren, Teil A Rdn 38 ff.).
Rdn 654
2. Einem "Mitgehen" der StA zu einem Rechtsmittel des Beschuldigten, um das Verbot der reformatio in peius (→ JGG-Besonderheiten, Verschlechterungsverbot, Teil A Rdn 933 ff.) auszuschalten oder gar die Durchführung der (Sprung-)Revision (→ JGG-Besonderheiten, Rechtsmittelbeschränkungen, Teil A Rdn 809 ff.) zu vereiteln (sog. "Sperrberufung", dazu Krumdiek StRR 2010, 84; → Berufung, Allgemeines, Teil A Rdn 11 ff.) steht die RLJGG Nr. 1 S. 2 zu § 55 JGG entgegen. Hiernach ist aus erzieherischen Gründen wegen des im Jugendstrafverfahren geltenden Beschleunigungsgebots bei der Einlegung von Rechtsmitteln zuungunsten des Angeklagten besondere Zurückhaltung geboten. Im Übrigen ist auf Nr. 147 Abs. 1 Satz 4 RiStBV zu verweisen, wonach die Einlegung eines Rechtsmittels durch einen anderen Beteiligten "kein hinreichender Grund" sein soll, das Urteil ebenfalls anzufechten.
Rdn 655
3.a) Die Vorschriften über das Ausbleiben des Angeklagten zur Berufungs-HV (§ 329 ff.) gelten über § 2 Abs. 2 JGG grds.a. im Jugendstrafverfahren (→ Berufung, Ausbleiben, Allgemeines, Teil A Rdn 57 m.w.N.; → Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Anfechtung, Allgemeines, Teil A Rdn 71; → Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Berufung Staatsanwaltschaft, Teil A Rdn 142; → Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Endgültiges A-Z, Teil A Rdn 108; → Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Endgültiges, Erkrankung, Teil A Rdn 154; → Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Endgültiges, Urlaub, Teil A Rdn 186; → Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Genügend entschuldigt, Teil A Rdn 170; → Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Nichterscheinen, Teil A Rdn 179; → Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Verspätung, Teil A Rdn 192; → Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Vertretung, Teil A Rdn 202 und Burhoff, HV, Rn 813 ff.).
Rdn 656
b) Besonderheiten können sich bei einer Berufung der gesetzlichen Vertreter oder Erziehungsberechtigten ergeben:
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erscheinen weder der Jugendliche noch ein Vertreter mit schriftlicher Vertretungsvollmacht noch der Berufungsführer, verwirft das Berufungsgericht die Berufung ohne Sachverhandlung (§§ 330 Abs. 2 S. 2 1. HS, 329 Abs. 1 S. 1); |
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erscheint der Jugendliche, nicht aber der Berufungsführer, so verhandelt das Berufungsgericht ohne diesen (§ 330 Abs. 2 S. 1); |
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erscheint nur der Berufungsführer, nicht aber der Jugendliche, gelten §§ 330 Abs. 2 S. 2 2. HS, 329 Abs. 2, 3. Die Berufung darf dann nicht verworfen werden; es wäre an sich ohne den Jugendlichen zu verhandeln. Allerdings steht einer solchen Verhandlung ohne den jugendlichen Angeklagten in der Regel Rechtsgedanke des § 50 Abs. 1 JGG entgegen, wonach im Regelfall eben nicht ohne den jugendlichen Angeklagten verhandelt werden darf; es ist dann wohl die Anwesenheit des Jugendlichen in der Berufungshauptverhandlung durch dessen polizeiliche Vorführung zu erzwingen (Eisenberg/Kölbel, § 55 Rn 24; Schäfer NStZ 1998, 330, 334; Ostendorf/Schady, § 55 Rn 10; Brunner/Dölling, § 55 Rn 7; → Berufung, Ausbleiben, Allgemeines, Teil A Rdn 57 m.w.N.). |
Rdn 657
c) Das Berufungsgericht darf die Berufung des nicht erschienenen Angeklagten nicht nach § 329 Abs. 1 verwerfen, wenn beim AG statt des Erwachsenengerichts das Jugendgericht zuständig gewesen wäre. Dann ist die Sache gem. § 328 Abs. 2 an das zuständige (erstinstanzliche) Jugendgericht zu verweisen (OLG Celle, Beschl. v. 26.1.1994 – 3 Ss 92/93, NStZ 1994, 298).
Siehe auch: → JGG-Besonderheiten, Allgemeines, Teil A Rdn 602, m.w.N.; → Berufung, Annahmeberufung, Allgemeines, Teil A Rdn 20; → Berufung, Annahmeberufung, Entscheidung...