Dr. Holger Niehaus, Dr. Peter Kotz
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Eine Gesamtstrafenbildung – wie im allgemeinen Strafrecht – ist im Jugendstrafverfahren nicht zulässig. Es wird immer eine einheitliche Rechtsfolge festgesetzt, unabhängig davon, ob die Taten vor oder nach der letzten Verurteilung begangen wurden. |
2. |
Ist die einheitliche Festsetzung von Maßnahmen oder Jugendstrafe gem. § 31 JGG unterblieben, so trifft der Richter eine solche Entscheidung gem. § 66 JGG nachträglich entweder durch Urteil oder Beschluss. |
3. |
Das im Verfahren nach § 66 JGG aufgrund einer HV ergangene Urteil ist mit der Berufung oder Revision (nach Maßgabe der sachlichen Rechtsmittelbeschränkung nach § 55 Abs. 1 JGG) anfechtbar. |
4. |
Wird im Verfahren nach § 66 JGG ohne HV entschieden, ergeht ein Beschluss. Dagegen ist das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde gegeben. |
Rdn 754
Literaturhinweise:
Schweckendieck, Zur Anwendbarkeit von § 31 II JGG in der Berufungsinstanz, NStZ 2005, 141
Dölling, Zuständigkeit für Folgeentscheidung in JGG-Bewährungssache, NStZ 2008, 694
Wohlfahrt, Die einheitliche Rechtsfolgenentscheidung im Jugendstrafrecht, insbesondere im Falle von mehreren Taten in verschiedenen Altersstufen, StraFo 2019, 265
s.a. die Hinw. bei → JGG-Besonderheiten, Allgemeines, Teil A Rdn 603.
Rdn 755
1. Eine Gesamtstrafenbildung – wie im allgemeinen Strafrecht – ist im Jugendstrafverfahren nicht zulässig. Vielmehr gilt das Prinzip der einheitlichen Maßnahme (Einheitsprinzip; § 31 JGG). Auch wenn in einem Verfahren mehrere Straftaten angeklagt sind, setzt der Richter im Urteil nur einheitlich Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel oder eine Jugendstrafe fest; Einzelstrafen werden nicht ausgeurteilt (§ 31 Abs. 1 JGG).
Rdn 756
Ist gegen den Jugendlichen in einem anderen Verfahren bereits rechtskräftig die Schuld festgestellt oder eine Erziehungsmaßregel, ein Zuchtmittel oder eine Jugendstrafe festgesetzt worden, aber noch nicht vollständig erledigt, so wird in einem neu geführten Verfahren unter Einbeziehung des rechtskräftigen Urteils nach § 31 Abs. 2 JGG in gleicher Weise nur einheitlich auf Maßnahmen oder Jugendstrafe erkannt, und zwar – anders als bei der Gesamtstrafenbildung aus dem Erwachsenenstrafrecht – auch dann, wenn die "neue" Tat nach der bereits abgeurteilten Tat begangen wurde (zum Ganzen Nöding, Rn 179 ff.; Wohlfahrt StraFo 2019, 265).
Rdn 757
Ist diese einheitliche Festsetzung von Maßnahmen nach § 31 JGG unterblieben, kann dies nach § 66 JGG noch nachträglich geschehen. Hat jedoch der Tatrichter im Urteil für in verschiedenen Altersstufen begangene Taten gemäß § 32 JGG allgemeines Strafrecht angewendet und deshalb keine Einheitsstrafe ausgeurteilt, kann hiervon nachträglich nicht abgewichen werden, sondern es ist eine Gesamtstrafe nach den allgemeinen Regeln zu bilden (OLG Stuttgart, Beschl. v. 17.8.2015 – 1 Ws 116/15, Justiz 2016, 35; Eisenberg/Kölbel, § 32 Rn 19; Lackner/Kühl/Heger/Heger, § 55 Rn 17).
Rdn 758
2.a) Ist die einheitliche Festsetzung von Maßnahmen oder Jugendstrafe gem. § 31 JGG unterblieben, so trifft der Richter eine solche Entscheidung gem. § 66 JGG nachträglich. Die Entscheidung ergeht entweder
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aufgrund einer HV durch Urteil, wenn die StA es beantragt oder der Vorsitzende es für angemessen hält (s. Teil A Rdn 767) oder |
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ohne HV durch Beschluss. |
☆ Wegen des Einheitsprinzips setzt die nachträgliche Festsetzung nicht voraus , dass der Jugendliche die Tat, für die er die zweite Sanktion erhalten hat, vor der ersten Verurteilung begangen hat.nicht voraus, dass der Jugendliche die Tat, für die er die zweite Sanktion erhalten hat, vor der ersten Verurteilung begangen hat.
Rdn 759
b) Die Vorschrift des § 66 JGG ist anwendbar auf:
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Jugendliche, auch wenn sie von einem allgemeinen Gericht verurteilt werden (§ 104 Abs. 2 JGG), |
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Heranwachsende dann, wenn materielles Jugendstrafrecht auf sie angewendet wird (§ 105 Abs. 2 S. 1 JGG). |
Rdn 760
c) Das Gericht ist bei seiner Entscheidung an die jeweiligen Schuldsprüche und die sie tragenden Gründe gebunden. Es bemisst jedoch eine neue einheitliche Rechtsfolge, die von den früheren Beurteilungen unabhängig ist und auf einer Gesamtwürdigung aller einzubeziehenden Straftaten beruhen muss. Die Rechtsfolgen der einbezogenen Entscheidungen entfallen – als wären sie nicht ergangen – mit der Rechtskraft der Entscheidung nach § 66 JGG.
Rdn 761
d) Ist in einer der rechtskräftigen Entscheidungen eine Jugendstrafe verhängt und diese teilweise vollstreckt, so ist für die nachträgliche Entscheidung der Jugendrichter zuständig, der als Vollstreckungsleiter tätig ist (§ 66 Abs. 2 S. 4 JGG; zum Jugendrichter als Vollstreckungsleiter s. Burhoff/Kotz/Schimmel, Nachsorge, Teil B Rn 939 ff.). In den sonstigen Fällen richtet sich die Zuständigkeit gem. § 66 Abs. 2 S. 3 JGG nach den Regelungen, die für die Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe gelten, also nach der Schwere der Rechtsfolge (§ 462a Abs. 3). Mithin ist das Gericht zuständig, welches die eingriffintensivste Rechtsfolge ausgeurteilt hat (Eisenberg/Kölbel, § 66 Rn 13).