Dr. Holger Niehaus, Dr. Peter Kotz
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Bis zur Rechtskraft des Urteils kann der Richter gem. § 71 Abs. 1 JGG vorläufige Anordnungen über die Erziehung des Jugendlichen treffen oder die Gewährung von Leistungen nach dem SGB VIII anregen. |
2. |
Das statthafte Rechtsmittel gegen eine vorläufige Anordnung über die Erziehung ist gem. § 2 Abs. 2 JGG i.V.m. § 304 die (einfache) Beschwerde. |
Rdn 772
Literaturhinweise:
Lüthke, Vorläufige Maßnahmen nach §§ 71, 72 JGG, insbesondere die Unterbringung in offenen Einrichtungen als Alternative zur Untersuchungshaft bei Jugendlichen, Zbl 1982, 125
Smok, Vorläufige Anordnung über die Erziehung nach § 71 JGG – Eine vernachlässigte Vorschrift?, 2009
s.a. die Hinw. bei → JGG-Besonderheiten, Allgemeines, Teil A Rdn 603.
Rdn 773
1.a) Bis zur Rechtskraft des Urteils kann der Richter gem. § 71 Abs. 1 JGG vorläufige Anordnungen über die Erziehung des Jugendlichen treffen oder die Gewährung von Leistungen nach dem SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) anregen. Die Vorschrift soll es ermöglichen, die Zeit zwischen dem Bekanntwerden von Straftaten und deren Ahndung durch erzieherisch sinnvolle Maßnahmen, mit denen Einfluss auf die Lebensführung genommen wird, zu überbrücken. Zulässig sind dabei Maßnahmen, die den Weisungen aus § 10 JGG entsprechen. Ein zwangsweiser Freiheitsentzug darf damit nicht verbunden sein, insb. kein Arrest (Eisenberg/Kölbel, § 71 Rn 5). Die Befolgung solcher Anordnungen ist nicht erzwingbar; insb. ist die Anordnung von Beugearrest unzulässig.
Rdn 774
Als vorläufige Maßnahmen kommen in Betracht:
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Betreuungsweisung, |
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Übernahme oder Wechsel eines Arbeitsplatzes oder einer Ausbildungsstelle, |
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Weisungen, die sich auf den Aufenthaltsort beziehen, |
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kontrollierter Schulbesuch, |
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Aufnahme in einer Wohngemeinschaft, einem Heim oder einer Familie, (Lüthke, S. 126; Brunner/Dölling, § 71 Rn 2; D/D/S-Diemer, § 71 Rn 7; Eisenberg/Kölbel, § 71 Rn 5a, die aber die Einwilligung des Jugendlichen voraussetzen; a.A. Ostendorf/Sommerfeld, § 71 Rn 6). |
Rdn 775
Die Maßnahmen können auch eingesetzt werden, um Untersuchungshaft zu vermeiden (→ JGG-Besonderheiten, Heimunterbringung, einstweilige, Teil A Rdn 778 ff.; → JGG-Besonderheiten, Untersuchungshaft, Teil A Rdn 932 ff.). In der Praxis ist die Vorschrift – jedenfalls in diesem Zusammenhang – jedoch fast bedeutungslos (zu den Ursachen Smok, S. 257).
Rdn 776
b) Die Vorschrift ist anwendbar auf Jugendliche; in Verfahren vor den allgemeinen Gerichten jedoch nur als Ermessensvorschrift (§ 104 Abs. 2 JGG), auch Heranwachsende nicht, selbst wenn materiell Jugendstrafrecht auf sie angewandt wird, da sie bereits volljährig sind (§ 109 Abs. 1 S. 1 JGG).
Rdn 777
2. Das statthafte Rechtsmittel gegen eine vorläufige Anordnung über die Erziehung ist gem. § 2 Abs. 2 JGG i.V.m. § 304 die (einfache) Beschwerde. Die sachliche Rechtsmittelbeschränkung des § 55 Abs. 1 JGG (→ JGG-Besonderheiten, Rechtsmittelbeschränkung, Teil A Rdn 832 ff.) gilt auch hier (Brunner/Dölling, § 71 Rn 12; Ostendorf/Sommerfeld, § 71 Rn 14; a.A. Eisenberg/Kölbel, § 71 Rn 15).
Siehe auch: → Beschwerde, Allgemeines, Teil A Rdn 400; → JGG-Besonderheiten, Allgemeines, Teil A Rdn 602; → JGG-Besonderheiten, Heimunterbringung, einstweilige, Teil A Rdn 778; → JGG-Besonderheiten, Untersuchungshaft, Teil A Rdn 933.