Dr. Holger Niehaus, Dr. Peter Kotz
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Im Jugendstrafverfahren ist ein Rechtsmittelverzicht immer unzulässig, wenn er auch im allgemeinen Strafverfahren unzulässig ist. |
2. |
Das Anfechtungsrecht der Erziehungsberechtigten (§ 67 Abs. 2 JGG) bleibt erhalten, auch wenn der Jugendliche selbst wirksam auf Rechtsmittel verzichtet hatte. |
3. |
Die Rechtsmittelrücknahme eines jugendlichen oder heranwachsenden Angeklagten beurteilt sich gem. § 2 Abs. 2 JGG nach allgemeinem Strafverfahrensrecht. |
4. |
Gem. § 55 Abs. 3 JGG kann der Erziehungsberechtigte oder gesetzliche Vertreter das von ihm eingelegte Rechtsmittel nur mit Zustimmung des Angeklagten zurücknehmen. |
Rdn 848
Literaturhinweise:
d’Alquen/Daxhammer/Kudlich, Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichtes eines jugendlichen Angeklagten unmittelbar im Anschluss an die Urteilsverkündung? StV 2006, 220
Berenbrink, Der übereilte Rechtsmittelverzicht des Angeklagten, 2005
Eisenberg/Müller, Widerrufbarkeit der auf Irrtum beruhenden eigenhändigen Revisionsrücknahme eines in Haft befindlichen Minderjährigen? Jura 2006, 54
s.a. die Hinw. bei → JGG-Besonderheiten, Allgemeines, Teil A Rdn 603.
Rdn 849
1. Im Jugendstrafverfahren ist ein Rechtsmittelverzicht immer unzulässig, wenn er auch im allgemeinen Strafverfahren unzulässig ist (dazu allgemein Burhoff, HV, Rn 2694 ff.). Darüber hinaus ist insbesondere von Unzulässigkeit/Zulässigkeit auszugehen in folgenden Beispielsfällen:
Rdn 850
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bei unverteidigtem Angeklagten in einem Fall der notwendigen Verteidigung (OLG Celle, Beschl. v. 30.5.2012 – 32 Ss 52/12, StV 2013, 12 [Ls.] m. Anm. Burhoff StRR 2012, 424; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.9.1998 – 5 Ss 303/98 – 47/98 IV, StV 1998, 647; OLG Hamm, Beschl. v. 26.3.2009 – 5 Ws 91/09, StV 2010, 67; OLG Köln, Beschl. v. 25.6.2002 – Ss 266/02, StV 2003, 65; OLG Naumburg, Beschl. v. 19.9.2011 – 2 Ws 245/11, StV 2013, 12; BeckOK JGG-Noak, § 68 Rn 27; s.a. Burhoff, HV, Rn 2694 ff. → JGG-Besonderheiten, Verteidigung, Teil A Rdn 975 ff.), |
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wenn dem Verurteilten aufgrund seiner geistigen Entwicklung die notwendige Einsichtsfähigkeit in die Bedeutung und Tragweite der Prozesshandlung fehlt (OLG Düsseldorf JZ 1985, 960; Ostendorf, § 55 Rn 3; Eisenberg/Kölbel, § 55 Rn 15, s.a. Teil A Rdn 854), |
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wenn ein Jugendlicher sich im Verzichtszeitpunkt in einer Ausnahme- oder Überforderungssituation befindet oder ihn der Jugendrichter in dahingehend beeinflusst, dass er meint, eine günstigere Rechtsfolge sei ohnehin nicht zu erlangen (Eisenberg/Kölbel, § 55 Rn 15). |
Rdn 851
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wenn sowohl der Angeklagte als auch sein anwesender Vater auf Rechtsmittel verzichtet haben, sofern keine besonderen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Verzicht nicht gewollt oder die Tragweite des Verzichts nicht erfasst wurde (OLG Hamm, Beschl. v. 3.4.2008 – 2 Ws 97/08), |
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bei einem ausländischen Heranwachsenden ohne hinreichende Deutschkenntnisse, wenn kein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag, aber jedenfalls ein Dolmetscher übersetzt hat (str.; OLG Brandenburg, Beschl. v. 4.6.2004 – 1 Ws 50/04; OLG Hamburg, Beschl. v. 17.5.2005 – I – 26/05 – 1 Ss 61/05, StV 2006, 175 m. Anm. Keller/Gericke). |
Rdn 852
2. Das Anfechtungsrecht der Erziehungsberechtigten (§ 67 JGG), welches aber nur zugunsten des Angeklagten eingelegt werden darf (OLG Celle, Beschl. v. 18.10.1963 – 3 Ws 637/63, NJW 1964, 417), bleibt erhalten, auch wenn der Jugendliche selbst wirksam auf Rechtsmittel verzichtet hatte. Der abwesende Erziehungsberechtigte soll an die Erklärung des anwesenden Berechtigten gebunden sein. Das soll auch für einen Rechtsmittelverzicht im Anschluss an die Urteilsverkündung gelten (Brunner/Dölling, § 67 Rn 10; zw. Eisenberg/Kölbel, § 67 Rn 43).
Rdn 853
Legt ein Erziehungsberechtigter oder gesetzlicher Vertreter des Angeklagten Rechtsmittel ein und ist über das Rechtsmittel bei Eintritt der Volljährigkeit noch nicht entschieden, so kann der Angeklagte das Rechtsmittel auch dann weiter betreiben, wenn er vorher selbst auf Rechtsmittel verzichtet hatte (BGH, Urt. v. 20.3.1957 – 2 StR 583/56, BGHSt 10, 174).
Rdn 854
3. Die Rechtsmittelrücknahme eines jugendlichen oder heranwachsenden Angeklagten beurteilt sich gem. § 2 Abs. 2 JGG nach allgemeinem Strafverfahrensrecht, sofern ihm nicht im Hinblick auf seine geistige Entwicklung die genügende Einsichtsfähigkeit fehlt. Die Einsichtsfähigkeit in die Tragweite eines Rechtsmittelverzichts soll bei einem 19-Jährigen auch dann gegeben sein, wenn das Tatgericht eine "schizoide Persönlichkeitsstörung" mit "paranoiden Tendenzen" im Sinne einer schweren anderen seelischen Abartigkeit angenommen hat und daher gemäß §§ 20, 21 StGB von einer verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten ausgegangen ist (BGH, Beschl. v. 23.7.1997 – 3 StR 520/96, NStZ-RR 1998, 60).
Rdn 855
Nach Ansicht des BGH soll die alleinige Rechtsmittelrücknahme eines sich in U-Haft befindlichen Jugendlichen ohne Wissen bzw. Einverständnis der Eltern und des Verteidigers auch dann wirksam sein, wenn zwar die dem Verteidiger ertei...