Dr. Holger Niehaus, Dr. Peter Kotz
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Das Rechtsschutzsystem im Strafverfahren ist nicht frei von Mängeln. |
2. |
Positiven Einfluss auf die Beschuldigtenrechte nehmen insbesondere das Europäische Recht und das GG. |
3. |
Eine Auslegungshilfe stellen auch die RiStBV dar. |
Rdn 1293
Literaturhinweise:
Burhoff, Formwirksamkeitsfragen bei Rechtsmitteln im Straf- und Bußgeldrecht, VRR 2024, 5
K. Peters, Strafprozesslehre. Zugleich ein Beitrag zur Rollenproblematik im Strafprozess, in: GS für Hans Peters, 1967, S. 891 ff.
Satzger, Vertrags- und verfassungsrechtliche Grundlagen, in: Sieber u.a., Europäisches Strafrecht, 2011, § 1, S. 97 ff.
Rdn 1294
1. Die Eingriffsintensität von staatlichen Maßnahmen, die auf dem Gebiet des Strafrechts getroffen werden können, erfordern aufgrund der stets damit einhergehenden Beeinträchtigungen individueller Rechtspositionen effektive Schutzmechanismen, deren Mindeststandards einfachrechtlich vorwiegend in der StPO und dem JGG verankert sind. Rechtsmittel und Rechtsbehelfe nach einfachem Recht stehen jedoch nicht isoliert im Raum; Auslegung und Anwendung werden zum einen beeinflusst durch das Verfassungsrecht, zum anderen in zunehmendem Maße durch europäisches Gemeinschaftsrecht. Ein in der Normenhierarchie StPO und JGG gleichgestelltes Gesetz ist die EMRK, die nicht nur dem einfachen Recht, sondern auch dem GG als Auslegungshilfe dient (BVerfGE 111, 307; 128, 326; 158,1).
Rdn 1295
2. Es ist die vornehmste Pflicht des Verteidigers, zur Effektivierung der Schutzmechanismen beizutragen, wie bereits die hier und in den nachfolgenden Kapiteln zitierte Rechtsprechung belegt; denn die Fortschritte, die auf diesem Gebiet zu verzeichnen sind, stammen nur in den seltensten Fällen vom Gesetzgeber selbst.
Rdn 1296
3.a) Das "System" selbst ist träge. Grundlegende Reformen der StPO sind nicht zu erwarten. Die moderne Gesetzgebung, die Vorschläge, Einwände oder Forderungen der Praxis überwiegend ignoriert, reagiert im Wesentlichen nur auf neue technische Herausforderungen oder äußeren Zwang wie der Pflicht zur Umsetzung einer das Verfahrensrecht betreffenden Richtlinie der Europäischen Union oder Mahnungen/Warnungen durch den EuGH (→ Rechtsmittel/Rechtsbehelfe, Einfluss Unionsrecht, Teil A Rdn 1452) den EGMR oder das BVerfG (→ Rechtsmittel/Rechtsbehelfe, Einfluss Grundgesetz, Teil A Rdn 1447).
Rdn 1297
b) Begrifflich ist zwischen förmlichen und formlosen Rechtsbehelfen zu unterscheiden. Zu den förmlichen Rechtsbehelfen gehören die Rechtsmittel in Gestalt der einfachen (§ 304), sofortigen (§ 311) und weiteren (§ 310) Beschwerde, Berufung (§§ 312 ff.) und Revision (§§ 333 ff.). Sie führen zu einer Nachprüfung durch ein Gericht höherer Ordnung (Devolutiveffekt); Berufung und Revision hindern außerdem den Eintritt der Rechtskraft und haben damit Suspensiveffekt. Die anderen förmlichen Rechtsbehelfe sind insbes. der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§§ 44, 235, 329 Abs. 3, 412), auf Entscheidung des Rechtsmittelgerichts (§§ 319 Abs. 2, 346 Abs. 2) und auf Wiederaufnahme des Verfahrens (§§ 359 ff.), der Einspruch gegen einen Strafbefehl (§§ 409 ff.) sowie in Einzelvorschriften geregelte Anträge auf gerichtliche Entscheidung (z.B. § 172 Abs. 2).
Rdn 1298
c) In der StPO sind Gemeinsamkeiten von Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen in §§ 296–303 geregelt.
Rdn 1299
d) Erste Zulässigkeitsvoraussetzung von Rechtsmitteln/Rechtsbehelfen ist deren Statthaftigkeit. Dabei geht es um die Frage, ob nach dem Gesetz ein Rechtsbehelf gerade dieser Art gegen eine konkrete Entscheidung gegeben ist. So ist gem. § 333 die Revision statthaftes Rechtsmittel gegen die Urteile der Strafkammer und der Schwurgerichte sowie gegen die im ersten Rechtszug ergangenen Urteil der Oberlandesgerichte. Anfechtungsberechtigte der Rechtsmittel sind Beschuldigter und Staatsanwaltschaft (§ 296) sowie (nur in bestimmten Umfang) sonstige Rechtsmittelberechtigte, deren nur in bestimmtem Umfang bestehende Rechtsmittelbefugnis sich aus Spezialvorschriften ergibt wie Nebenkläger (§ 400) oder Privatkläger (§ 390).
Rdn 1300
e) Das Rechtsschutzsystem der StPO ist historisch gewachsen und wird in einigen Bereichen nur verständlich, wenn man die Entwicklung der Gesetzgebung und Rspr. nachvollzieht. Dies betrifft insbesondere die Ausgestaltung des Instanzenzuges. So ist es für einen juristischen Laien nicht nachvollziehbar, dass gegen amtsgerichtliche Urteile die Berufung statthaft ist und gegen das Berufungsurteil sodann die Revision eingelegt werden kann, landgerichtliche Urteil dagegen nur mit der Revision angegriffen werden können. Dass die Feststellungen des Urteils in der Revision nicht mit dem Vortrag angegriffen werden können, in der Realität, nach dem Inhalt der Akte oder nach dem Geschehen in der HV sei alles "ganz anders" gewesen, fällt selbst Verteidigern oft schwer zu akzeptieren. Eigene (mandantenfreundliche) Würdigungen des Sachverhalts oder Ergänzungen mit urteilsfremdem Vorbringen sind ein – leider häufig anzutreffendes – Phänomen anwaltlicher R...