Detlef Burhoff, Dr. iur. Thorsten Junker
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Im Jugendstrafverfahren ist ein Rechtsmittelverzicht immer unzulässig, wenn er auch im allgemeinen Strafverfahren unzulässig ist. |
2. |
Das Anfechtungsrecht der Erziehungsberechtigten (§ 67 JGG) bleibt erhalten, auch wenn der Jugendliche selbst wirksam auf Rechtsmittel verzichtet hatte. |
3. |
Die Rechtsmittelrücknahme eines jugendlichen oder heranwachsenden Angeklagten beurteilt sich gem. § 2 Abs. 2 JGG nach allgemeinem Strafverfahrensrecht. |
4. |
Gem. § 55 Abs. 3 JGG kann der Erziehungsberechtigte oder gesetzliche Vertreter das von ihm eingelegte Rechtsmittel nur mit Zustimmung des Angeklagten zurücknehmen. |
Rdn 858
Literaturhinweise:
d'Alquen/Daxhammer/Kudlich, Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichtes eines jugendlichen Angeklagten unmittelbar im Anschluss an die Urteilsverkündung? StV 2006, 220
Berenbrink, Der übereilte Rechtsmittelverzicht des Angeklagten, 2005
Eisenberg/Müller, Widerrufbarkeit der auf Irrtum beruhenden eigenhändigen Revisionsrücknahme eines in Haft befindlichen Minderjährigen? Jura 2006, 54
s.a. die Hinw. bei → JGG-Besonderheiten, Allgemeines, Teil A Rdn 620.
Rdn 859
1. Im Jugendstrafverfahren ist ein Rechtsmittelverzicht immer unzulässig, wenn er auch im allgemeinen Strafverfahren unzulässig ist (dazu Burhoff, HV, Rn 1790). Darüber hinaus ist insbesondere von Unzulässigkeit/Zulässigkeit auszugehen (dazu Burhoff, HV, Rn 1790 u. Rn 2189) in folgenden Beispielsfällen:
Rdn 860
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bei unverteidigtem Angeklagten in einem Fall der notwendigen Verteidigung (OLG Celle StV 2013, 12 [Ls.] m. Anm. Burhoff StRR 2012, 424; OLG Düsseldorf StV 1998, 647; OLG Hamm StV 2010, 67; OLG Köln StV 2003, 65), wobei die jugendfreundliche Auslegung von § 140 Abs. 2 eine besondere Rolle spielt, d.h. bereits dann, wenn eine Jugendstrafe droht (OLG Hamm StV 2009, 85; LG Gera StraFo 1998, 270; 1998, 342, s. dazu auch Burhoff, EV, Rn 2328 ff.; Burhoff, HV, Rn 1759 ff. → JGG-Besonderheiten, Verteidigung, Teil A Rdn 990 ff.), |
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wenn dem Verurteilten aufgrund seiner geistigen Entwicklung die notwendige Einsichtsfähigkeit in die Bedeutung und Tragweite der Prozesshandlung fehlt (OLG Düsseldorf JZ 1985, 960; HK-JGG/Laue, § 55 Rn 16; Eisenberg, § 55 Rn 13a, s. auch Rdn 864), |
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wenn ein Jugendrichter den Angeklagten (entgegen § 18 Abs. 1 S. 3 JGG) gleichsam schockiert hat durch die Mitteilung der Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts, sodass dieser die sodann ausgesprochene Rechtsfolge als besonders milde beurteilt und irrig annimmt, eine weniger eingriffsintensive Rechtsfolge sei schwerlich zu erlangen (Eisenberg, § 55 Rn 13a), |
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bei besonderer Verfahrenskonstellation (Der jugendliche Angeklagte polnischer Herkunft wurde nach elf HV-Tagen u.a. wegen Raub mit Todesfolge zu einer Jugendstrafe von 5 Jahren und 11 Monaten verurteilt. Der Vorsitzende legt einen Rechtsmittelverzicht nahe, den der Angeklagte nach Rücksprache mit seinem Pflichtverteidiger erklärt. Allerdings handelte es sich nicht um den Pflichtverteidiger, der ihn in der HV verteidigt hatte, sondern um einen nur am letzten Tag anwesenden Vertreter (für die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts: d'Alquen/Daxhammer/Kudlich StV 2006, 220). |
Rdn 861
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wenn sowohl der Angeklagte als auch sein anwesender Vater auf Rechtsmittel verzichtet haben, wenn sofern besondere Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Verzicht nicht gewollt oder die Tragweite des Verzichts nicht erfasst wurde (OLG Hamm, Beschl. v. 3.4.2008 – 2 Ws 97/08), |
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bei einem ausländischen Heranwachsenden ohne hinreichende Deutschkenntnisse, wenn kein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag und ein Dolmetscher übersetzt hat (str.; OLG Brandenburg, Beschl. v. 4.6.2004 – 1 Ws 50/04; OLG Hamburg StV 2006, 175 m. Anm. Keller/Gericke). |
Rdn 862
2. Das Anfechtungsrecht der Erziehungsberechtigten (§ 67 JGG) bleibt erhalten, auch wenn der Jugendliche selbst wirksam auf Rechtsmittel verzichtet hatte. Der abwesende Erziehungsberechtigte soll an die Erklärung des anwesenden Berechtigten gebunden sein. Das soll auch für einen Rechtsmittelverzicht im Anschluss an die Urteilsverkündung gelten (Brunner/Dölling, § 67 Rn 3; zw. Eisenberg, § 67 Rn 16).
Rdn 863
Legt ein Erziehungsberechtigter oder gesetzlicher Vertreter des Angeklagten Rechtsmittel ein und ist über das Rechtsmittel bei Eintritt der Volljährigkeit noch nicht entschieden, so kann der Angeklagte das Rechtsmittel auch dann weiter betreiben, wenn er vorher auf Rechtsmittel verzichtet hatte (BGHSt 10, 174).
Rdn 864
3. Die Rechtsmittelrücknahme eines jugendlichen oder heranwachsenden Angeklagten beurteilt sich gem. § 2 Abs. 2 JGG nach allgemeinem Strafverfahrensrecht, sofern ihm nicht im Hinblick auf seine geistige Entwicklung die genügende Einsichtsfähigkeit fehlt. Die Einsichtsfähigkeit in die Tragweite eines Rechtsmittelverzichts soll bei einem 19-Jährigen auch dann gegeben sein, wenn das Tatgericht eine "schizoide Persönlichkeitsstörung" mit "paranoiden Tendenzen" im Sinne einer schweren anderen seelischen Abartigkeit an...