Detlef Burhoff, Dr. iur. Thorsten Junker
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Das Rechtsschutzsystem im Strafverfahren ist nicht frei von Mängeln. |
2. |
Positiven Einfluss auf die Beschuldigtenrechte nehmen insbesondere das Europäische Recht und das GG. |
3. |
Eine Auslegungshilfe stellen auch die RiStBV dar. |
4. |
In der StPO sind Gemeinsamkeiten von Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen in §§ 296 – 303 geregelt. |
5. |
Rechtsbehelfe ist der Oberbegriff; Rechtsmittel als Untergruppe unterscheiden sich durch ihre Wirkung. |
6. |
Erste Zulässigkeitsvoraussetzung von Rechtsmitteln/Rechtsbehelfen ist deren Statthaftigkeit. |
7. |
In zweiter Linie muss der Rechtsmittelführer zur Anfechtung berechtigt sein. |
Rdn 1290
Literaturhinweise:
K. Peters, Strafprozesslehre. Zugleich ein Beitrag zur Rollenproblematik im Strafprozess, in: GS für Hans Peters, 1967, S. 891 ff.
Satzger, Vertrags- und verfassungsrechtliche Grundlagen, in: Sieber u.a., Europäisches Strafrecht, 2011, § 1, S. 97 ff.
Rdn 1291
1. Die Eingriffsintensität von staatlichen Maßnahmen, die auf dem Gebiet des Strafrechts getroffen werden können, erfordern aufgrund der stets damit einhergehenden Beeinträchtigungen individueller Rechtspositionen effektive Schutzmechanismen, deren Mindeststandards einfachrechtlich vorwiegend in der StPO und dem JGG verankert sind. Rechtsmittel und Rechtsbehelfe nach einfachem Recht stehen jedoch nicht isoliert im Raum; Auslegung und Anwendung werden zum einen beeinflusst durch das Verfassungsrecht, zum anderen in zunehmendem Maße durch europäisches Gemeinschaftsrecht. Ein in der Normenhierarchie StPO und JGG gleichgestelltes Gesetz ist die EMRK, die nicht nur dem einfachen Recht, sondern auch dem GG als Auslegungshilfe dient (BVerfG NJW 2011, 1931).
Rdn 1292
2. Es ist die vornehmste Pflicht des Verteidigers, zur Effektivierung der Schutzmechanismen beizutragen, wie bereits die hier und in den nachfolgenden Kapiteln zitierte Rechtsprechung belegt; denn die Fortschritte, die auf diesem Gebiet zu verzeichnen sind, stammen nur in den seltensten Fällen vom Gesetzgeber selbst. Eher ist vom Gegenteil auszugehen: Beschränkungen, in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts im Zusammenhang mit der justiziellen Bewältigung der RAF-Kriminalität eingeführt wurden, befinden sich nach wie vor in der StPO (wer weiß, wofür man sie noch brauchen kann?). Rechtsschutzerweiterungen erfolgen i.d.R. eher gezwungenermaßen und – wie es z.B. die aktuelle Situation im Zusammenhang mit der Sicherungsverwahrung widerspiegelt – dann auch noch halbherzig. Die Zahl der von der StA zugunsten eines Angeklagten eingelegten Rechtsmittel und die Fälle, in denen § 301 zum Tragen kommt, sind verschwindend gering. Eine Gesamtbetrachtung führt deshalb zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass es im Wesentlichen, man könnte fast sagen: annähernd zu 100 %, die Verteidiger sind, die das Rechtsschutzsystem am Laufen halten und dessen Fortschreibung vorantreiben.
Rdn 1293
3.a) Das "System" selbst ist träge. Wirklich freiwillig oder von sich aus trägt der Gesetzgeber zum Ausbau der Beschuldigtenrechte (im Gegensatz zur Erweiterung der Opferrechte) schon lange nichts mehr bei. Selbst der zum 1.1.2010 in Kraft getretene § 140 Abs. 1 Nr. 4 entsprang nicht einer in den Reihen der rechtspolitischen Legislative geborenen Idee einer subjektbezogenen Verfahrensgestaltung, sondern geht auf das jahrelange Insistieren der Anwaltschaft zurück (vgl. SK-StPO/Wohlers, § 140 Rn 10). Zumeist beruhen Verbesserungen auf äußerem Zwang wie der Pflicht zur Umsetzung einer das Verfahrensrecht betreffenden Richtlinie der Europäischen Union oder Mahnungen/Warnungen durch den EuGH (→ Rechtsmittel/Rechtsbehelfe, Einfluss Unionsrecht, Teil A Rdn 1453) der EGMR oder das BVerfG (→ Rechtsmittel/Rechtsbehelfe, Einfluss Grundgesetz, Teil A Rdn 1448).
☆ Die StPO krankt deshalb – im Gegensatz zum JGG – nach wie vor daran, dass sie in Konflikt- oder Zweifelsfällen immer dem Verfahrensfortgang Vorrang vor den Rechten des Verfahrensbetroffenen einräumt.StPO krankt deshalb – im Gegensatz zum JGG – nach wie vor daran, dass sie in Konflikt- oder Zweifelsfällen immer dem Verfahrensfortgang Vorrang vor den Rechten des Verfahrensbetroffenen einräumt.
Rdn 1294
So statuiert etwa der 1987 eingeführte § 35a die Belehrungspflicht des Verfahrensbetroffenen. Die Verletzung dieser bedeutsamen Pflicht durch das Gericht bleibt indessen folgenlos, wenn nicht der Betroffene das Wiedereinsetzungsverfahren betreibt und in dessen Rahmen dartut, dass er die Frist infolge des Fehlens oder der unzutreffenden Belehrung nicht gekannt hat. Das versteht die StPO u.a. unter "Kommunikation", also dem Austausch i.S. eines gegenseitigen Gebens und Nehmens.
Rdn 1295
b) Diese Grundkonzeption schlägt zwangsläufig auf die Auslegung und Anwendung der über die Auslegung der Verfahrensvorschriften entscheidenden Gerichte durch. Unzulänglichkeiten werden deshalb auch durch die Rechtsprechung toleriert.
Rdn 1296
aa) Ein besonders krasses Beispiel ist der der Entscheidung BGHSt 51, 298 ("Protokollrüge") zugrunde liegende Ausgangssachver...