Daniel Amelung, Lars Bachler
Rdn 1556
Literaturhinweise:
Allgaier, Postalische Briefverzögerung im Rechtsverkehr – Rechtliche Bedeutung der Brieflaufzeiten, JurBüro 2012, 396
Hillenbrand, Zustellungsfehler im Strafverfahren – Retter in der (Verteidiger-)Not, ZAP F 22, S. 921
s.a. die Hinw. bei → Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Allgemeines, Teil B Rdn 1521.
Rdn 1557
1. Nach § 44 Abs. 1 ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn eine Frist versäumt worden ist (dazu Teil B Rdn 1558) und den Antragsteller daran kein Verschulden trifft (zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung einer Verfahrensrüge → Revision, Begründung, Frist, Teil A Rdn 2076 ff.; Burhoff, HV, Rn 2788 ff. und Burhoff/Junker, OWi, Rn 3029 ff.; a. noch u.a. BGHSt 31, 161; und zuletzt u.a. BGH, Beschl. v. 11.4.2019 – 1 StR 91/18, NJW 2019, 3170 [Ls.]; Beschl. v. 2.12.2020 – 2 StR 267/20, NStZ 2021, 753; v. 24.10.2018 – 2 StR 578/16, NStZ-RR 2019, 25; Beschl. v. 4.3.2021 – 4 StR 209/20; v. 25.11.2021 – 4 StR 103/21, NStZ-RR 2022, 51; Beschl. v. 21.4.2022 – 3 StR 49/22, NStZ-RR 2022, 208; a. noch BGH, Beschl. v. 18.5.2022 – 3 StR 181721, StraFo 2022, 428 [lange Postlaufzeit]; OLG Köln NStZ-RR 1996, 212). Im Einzelnen gilt:
Rdn 1558
2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt nur bei Versäumung einer Frist i.S.d. § 44 in Betracht. Das sind, wie die §§ 45, 46 zeigen, prozessuale, notwendigerweise bei Gericht wahrzunehmende Pflichten, gleichgültig, ob sie gesetzliche oder richterliche, ursprüngliche oder verlängerte Fristen sind (Meyer-Goßner/Schmitt, § 44 Rn 3). Dies kann auch dann gegeben sein, wenn die Prozesshandlung zwar vorgenommen, dabei aber unverschuldet die erforderliche Form nicht gewahrt worden ist (BGHSt, 335, 338 f: Beschl. v. 21.4.2022 – 3 StR 49/22, NStZ-RR 2022, 208 m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt, § 44 Rn 6; BeckOK StPO/Cirener, 43. Ed., § 44 Rn 9). Denn nur durch eine den gesetzlichen Formerfordernissen entsprechende Prozesshandlung kann eine Frist eingehalten werden (BeckOK StPO/Cirener, 43. Ed., § 44 Rn 9). Dem Angeklagten ist daher ggf. Wiedereinsetzung zumindest für die Erhebung der Sachrüge zu gewähren, sofern sich aus der Rechtsmittelbegründung nicht ergibt, ob eine Verfahrens- oder Sachrüge erhoben werden soll (BGH, a.a.O.).
Rdn 1559
§ 44 gilt grds. nicht für (Meyer-Goßner/Schmitt, § 44 Rn 3; dazu Burhoff, EV, Rn 5645; Burhoff, HV, Rn 4141 ff.):
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Erklärungsfristen und (Ausschluss-) Fristen, wie z.B. nach §§ 6a S. 3, 16 S. 3, 222b Abs. 1 S. 1, 222a, |
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die 2-wöchige Antragsfrist des § 101 Abs. 7 S. 2, da es sich dabei ebenfalls um eine Ausschlussfrist handeln soll (KK/Henrichs/Weingast, § 101 Rn 30; s. aber die Nachw. zur a.A. bei Meyer-Goßner/Schmitt, § 101 Rn 25), |
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die Frist zur rechtzeitigen Stellung eines Ablehnungsantrags wegen Besorgnis der Befangenheit (§ 25; dazu Burhoff, EV, Rn 100 ff.; Burhoff, HV, Rn 173 ff.), |
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vom Gericht gesetzte Fristen, wie z.B. für die, die das Gericht zur Begründung einer Beschwerde gesetzt hat (OLG Karlsruhe MDR 1983, 250; OLG Stuttgart StRR 2015, 388 [Frist zur Gewährung rechtlichen Gehörs]), |
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den Fall, dass der Angeklagte oder sein Verteidiger zu spät Kenntnis von einer gesetzlichen Bestimmung oder von höchstrichterlicher Rechtsprechung genommen haben (BGH StV 2010, 475), |
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die Frist zur Wahl des endgültigen Rechtsmittels, nachdem zunächst nur ein unbestimmtes Rechtsmittel eingelegt worden ist, ist ausgeschlossen (OLG Hamm StRR 2012, 148 [auch nicht im JGG-Verfahren]; OLG München wistra 2009, 327; OLG Naumburg StraFo 2009, 388. |
Rdn 1560
3. Der Angeklagte/Betroffene muss "verhindert" gewesen sein, die Frist einzuhalten. Das waren er oder sein Verteidiger nur dann, wenn äußere Umstände, die er nicht steuern konnte, ihn an der der Fristwahrung gehindert haben. Kennt der Angeklagte/Verteidiger die Frist und lässt er sie bewusst verstreichen, ist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausgeschlossen. Derjenige, der von einem befristeten Rechtsbehelf bewusst keinen Gebrauch gemacht hat, ist grds. nicht verhindert i.S. des § 44. Das ist sowohl bei einem bloßen Verstreichenlassen der Rechtsmittelfrist als auch bei einer Rücknahme des Rechtsmittels und bei wirksamem Rechtsmittelverzicht der Fall st.Rspr. zuletzt BGH NStZ-RR 2013, 381; NStZ-RR 2016, 85 m.w.N. aus der Rspr. des BGH; OLG Bamberg StRR 5/2017, 3 [Ls.]; OLG Celle RVGreport 2017, 79; OLG Hamm, Beschl. v. 9.9.2014 – 5 RVs 67/14). Unzutreffende rechtliche Einschätzungen und fehlerhafte Beratungen können durch das Wiedereinsetzungsverfahren also nicht repariert werden (BGH NStZ 2001, 160; 2012, 652; NStZ-RR 2012, 285 [Ls.]; 2016, 85 [Rechtsmittelverzicht]; OLG Celle RVGreport 2017, 79; OLG Hamm, Beschl. v. 9.9.2014 – 5 RVs 67/14). Wiedereinsetzung wird auch nicht mehr gewährt, wenn ein Rechtsmittel bereits wirksam zurückgenommen worden ist (BGH NStZ-RR 2013, 381) bzw. die Tragweite der angefochtenen Entscheidung verkannt wurde (OLG Celle, a.a.O.).
☆ In den Fällen hilft dann auch nicht die Behauptung des Angeklagten, er h...