Daniel Hagmann, Monika Oerder
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Die Parteien können jederzeit eine gütliche Einigung zwecks Verfahrensbeendigung treffen. |
2. |
Das Einigungsverfahren ist formlos, aber vertraulich; sein Inhalt darf nicht in das streitige Verfahren eingeführt werden. |
3. |
Zur Erledigung des Verfahrens bedarf es trotz getroffener Einigung einer Entscheidung durch den EGMR. |
4. |
Der beschwerdegegnerische Staat kann durch einseitige Erklärung die Beendigung des Verfahrens herbeiführen, wenn der EGMR dieses akzeptiert und aufgrund dessen die Beendigung des Verfahrens feststellt. |
Rdn 138
Literaturhinweise:
Frowein, Der freundschaftliche Ausgleich im Individualbeschwerdeverfahren nach der Menschenrechtskonvention und das deutsche Recht, JZ 1969, 213
Klinger, Der Sicherungshaftbefehl gem. § 453c StPO im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zum Widerruf der Strafaussetzung, NStZ 2012, 70
Trechsel, Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, StV 1993, 98
s.a. die Hinw. bei → Menschenrechtsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 2.
Rdn 139
1.a) In jedem Verfahrensstadium können die Parteien eine gütliche Einigung zur Beendigung des Verfahrens herbeiführen (Art. 39 EMRK; Art. 62 VerfO-EGMR). Zu diesem Zweck kann sich der EGMR jederzeit während des Verfahrens zur Verfügung der Parteien halten (Art. 39 Abs. 1 EMRK). Art. 62 Abs. 1 S. 1 VerfO-EGMR sieht vor, dass der Kanzler nach positivem Abschluss der Zulässigkeitsprüfung nach Weisungen der Kammer oder ihres Präsidenten Kontakt mit den Parteien aufnimmt, um eine gütliche Einigung zu erzielen. Dies kann aber auch zu einem früheren Verfahrensstadium geschehen (Art. 62 Abs. 4 VerfO-EGMR). Regelmäßig erfolgt eine entsprechende Kontaktaufnahme bereits mit Zustellung der Beschwerde (Karpenstein/Mayer/Wenzel, EMRK, Art. 39 Rn 4). Auf Wunsch unterbreitet der EGMR einen Vorschlag, der sich in der Regel zur Höhe der zu zahlenden Entschädigung verhält (Meyer-Ladewig, Art. 39 Rn 5). I.Ü. ermöglicht Art. 62 Abs. 1 S. 2 VerfO-EGMR der Kammer, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um eine gütliche Einigung zu erreichen.
Rdn 140
b) Gegenstand der Einigung kann die Feststellung der Konventionsverletzung (z.B. EGMR, Entsch. v. 17.2.2009 – 13935/05 u.a. [Aleš Vovk u.a./Slowenien]), die Verpflichtung zur Zahlung einer Entschädigungssumme (z.B. EGMR, Urt. v. 28.1.2010 – 3545/04 [Brauer/Deutschland]), die Zusage, Gesetze oder eine administrative Praxis zu ändern (EGMR, Urt. v. 5.7.2005 – 41138/98 und 64320/01 [Moldovan u.a./Rumänien Nr. 29 f.] – Ergreifung konkreter Maßnahmen gegen die (weitere) Diskriminierung von Roma) und die Vornahme sonstiger Verpflichtungen wie die Rückgabe einer Sache, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, das Absehen von Strafvollstreckung oder den vollständigen oder teilweisen Straferlass (Meyer-Ladewig, Art. 39 Rn 3) sein.
Rdn 141
2.a) Das Verfahren zur gütlichen Einigung ist formlos (SK-StPO-Paeffgen, EMRK Einleitung Rn 245 m.w.N.) aber vertraulich (Art. 39 Abs. 2 EMRK) und inhaltlich unabhängig vom streitigen Verfahren (Art. 62 Abs. 2 S. 1 VerfO-EMRK). Im Rahmen der Verhandlung über die Erzielung einer gütlichen Einigung geäußerte schriftliche oder mündliche Mitteilungen, Angebote oder Eingeständnisse dürfen im streitigen Verfahren nicht erwähnt oder geltend gemacht werden (Art. 62 Abs. 2 S. 2 VerfO-EGMR). Die Verfahrensanordnungen des Präsidenten des Gerichtshofs zu schriftlichen Eingaben fordern die Parteien insoweit auf, bezüglich streitigem Verfahren und Einigungsverfahren getrennte Schriftsätze einzureichen; Bezugnahmen in Schriftsätzen des streitigen Verfahrens auf Inhalte des Einigungsverfahrens dürfen nicht erfolgen (Ziffer 16 f. der Verfahrensanordnungen).
Rdn 142
b) Allerdings geht das Vertraulichkeitsgebot hierüber deutlich hinaus: Inhalte aus dem Einigungsverfahren dürfen auch Dritten grundsätzlich nicht bekannt gegeben werden (Meyer-Ladewig, Art. 39 EMRK Rn 8 m.w.N.). Die Vertraulichkeitsregelung hat im Verfahrensrecht des EGMR eine besondere Bedeutung, soll sie doch verhindern, dass gegenüber Parteien und Gerichtshof politischer oder sonstiger Druck ausgeübt werden könnte (EGMR, Urt. v. 15.9.2009 – 798/05 [Mirolubovs u.a./Lettland Nr. 66], NVwZ 2010, 1541 unter Bezugnahme auf Entsch. v. 5.3.1996 – 26135/95 [Malige/Frankreich S. 162] zur Veröffentlichung von Verfahrensinhalten in den Medien [Zeitung und Fernsehen] im insgesamt vertraulichen Verfahren vor der Kommission durch den Vertreter des Beschwerdeführers).
☆ Der EGMR bewertet die Verletzung des Vertraulichkeitsgebots jedenfalls dann als Missbrauch des Beschwerderechts (→ Menschenrechtsbeschwerde, Zulässigkeit, Zulässigkeitsvoraussetzungen , Teil C Rdn 444 ) mit der Folge der Streichung aus der Liste der Fälle (→ Menschenrechtsbeschwerde, Streichung aus der Liste , Teil C Rdn 300 ), wenn diese eine bedeutende Außenwirkung hat und ein entschuldigender Grund nicht ersichtlich ist (EKMR [Pl.], Bericht v. 3.3.1995 – 20915/92 [Familiapress Zeitungs-GmbH/Österreich Nr. 15 bis 17] – Bekanntgabe im Rahmen ...