Daniel Hagmann, Monika Oerder
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Menschenrechtsbeschwerde sind im Wesentlichen in § 35 EMRK normiert. |
2. |
Die Zuständigkeit des EGMR erstreckt sich auf alle Fragen der Auslegung und Anwendung der EMRK und ihrer Protokolle. |
3. |
Die Erhebung einer Menschenrechtsbeschwerde ist ausgeschlossen, wenn sie anonym eingereicht wird, inhaltlich einer schon eingereichten Menschenrechtsbeschwerde entspricht oder inhaltlich identisch bereits einer anderen internationalen Prüfungsinstanz vorgelegt wurde. |
4. |
Eine Menschenrechtsbeschwerde ist unzulässig im Fall des Missbrauchs des Beschwerderechts, wenn sie im Widerspruch zur EMRK steht oder offensichtlich unbegründet ist. |
5. |
Die Entscheidung über die Zulässigkeit der Menschenrechtsbeschwerde ergeht isoliert oder zusammen mit der Entscheidung über deren Begründetheit. Die Entscheidung des EGMR über die Zulässigkeit ist nicht anfechtbar. |
Rdn 421
Literaturhinweise:
Giegerich, Vorbehalte zu Menschenrechtsabkommen. Zulässigkeit, Gültigkeit und Prüfungskompetenz von Vertragsgremien, ZaöRV 55 (1990), 713
Meyer-Ladewig/Petzold, Trivialbeschwerden in der Rechtsprechung des EGMR, NJW 2011, 3126
Stahn, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, EuGRZ 2000, 607
s.a. die Hinw. bei → Menschenrechtsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 2.
Rdn 422
1. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Menschenrechtsbeschwerde sind im Wesentlichen in § 35 EMRK normiert. Danach setzt die Befassung des EGMR zunächst die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs (→ Menschenrechtsbeschwerde, Rechtswegerschöpfung, Teil C Rdn 250) und die Einhaltung einer Frist (→ Menschenrechtsbeschwerde, Frist, Teil C Rdn 180) zur Einlegung der Beschwerde von vier Monaten nach der letzten innerstaatlichen Entscheidung voraus. Art. 35 EMRK normiert neben diesen Zulässigkeitsvoraussetzungen insbesondere Ausschlussgründe (Abs. 2; Teil C Rdn 424 ff.) sowie Unzulässigkeitsgründe (Abs. 3; Teil C Rdn 432 ff.).
Rdn 423
2. Nach Art. 32 Abs. 1 EMRK umfasst die Zuständigkeit des EGMR im Rahmen einer erhobenen Menschenrechtsbeschwerde alle die Auslegung und Anwendung der EMRK und ihrer Protokolle betreffenden Angelegenheiten. Fehler nationaler Gerichte bei der Tatsachenfeststellung, der Rechtsanwendung oder der Richtigkeit eines Schuldspruchs unterliegen der Gerichtsbarkeit des EGMR nur, soweit dadurch Konventionsrechte verletzt sein können. Über einen Streit über seine Zuständigkeit entscheidet der EGMR selbst, Art. 32 Abs. 2 EMRK.
Rdn 424
3. Der EGMR befasst sich nach Art. 35 Abs. 2 EMRK nicht mit einer Menschenrechtsbeschwerde, die anonym erhoben wurde (Teil C Rdn 425 ff.), im Wesentlichen mit einer dem EGMR bereits vorgelegten Beschwerde übereinstimmt (Teil C Rdn 428 ff.) oder schon einer anderen internationalen "Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz" zur Prüfung vorgelegt wurde und keine neuen Tatsachen enthält (Teil C Rdn 430 ff.).
Rdn 425
a) Das Verbot der Anonymität soll die Identifikation des Beschwerdeführers gewährleisten (Frowein/Peukert/Peukert, Art. 35 EMRK Rn 48). Die für den EGMR wesentlichen Angaben fragt dieser durch das obligatorische Beschwerdeformular (→ Menschenrechtsbeschwerde, Zulässigkeit, formale Voraussetzungen, Teil C Rdn 417) ab. Wer nicht wünscht, dass seine Identität offengelegt wird, kann dies dem EGMR unter Angabe seiner Gründe mitteilen (Art. 47 Abs. 4 VerfO-EGMR).
Rdn 426
b) Hinweis für den Rechtsanwalt/Verteidiger
Auf Antrag des Beschwerdeführers oder von Amts wegen kann der Kammerpräsident Anonymität gewähren. Zum Ersuchen auf Anonymität hat der Präsident des Gerichtshofs Verfahrensanordnungen gem. Art. 32 VerfO-EGMR erlassen (→ Menschenrechtsbeschwerde, EGMR – Verfahrensgrundsätze, Teil C Rdn 136). Danach sollen entsprechende Anfragen laufende Fälle betreffend mit Beschwerdeerhebung oder möglichst kurzfristig danach gestellt werden. Der Beschwerdeführer soll die Gründe für das Ersuchen benennen und genau darlegen, welche Bedeutung die Offenlegung für ihn hat. Er sollte dann auch angeben, ob er die Benennung seiner Initialen oder eines Buchstabens wünscht.
Rdn 427
Auch in bereits erledigten Fällen kann nachträglich die Wahrung der Anonymität beantragt werden. In diesem Fall sollte der Beschwerdeführer zusätzlich erläutern, warum er nicht bereits im noch laufenden Verfahren um Anonymität ersucht hat. Wird einem solchen Gesuch stattgegeben, kann Anonymität unter anderem dadurch gewährt werden, dass Urteil oder Entscheidung aus der HUDOC-Datenbank gelöscht oder die persönlichen Daten aus Veröffentlichungen entfernt werden.
Rdn 428
c) Das Verbot der wiederholten Einreichung von Beschwerden soll die doppelte Belastung des Gerichtshofs mit demselben Fall verhindern. Eine Übereinstimmung liegt daher nur dann vor, wenn Beschwerdeführer, Sachverhalt und Beschwerdegegenstand identisch sind (EGMR [Pl.], Entsch. v. 9.1.1995 – 24872/94 [Pauger/Österreich] m.w.N.).
☆ Keine Beschwerdeidentität i.d.S. liegt vor, wenn sich derselbe Beschwerdeführer zunächst gegen konventionswidrige Bedingungen sei...