Daniel Hagmann, Monika Oerder
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
U-Haft ist legale Freiheitsberaubung gegenüber einem Unschuldigen. |
2. |
Der dominierende (Haft-)Grund, mit dem die U-Haft gerechtfertigt wird, ist die Fluchtgefahr. In der Praxis werden aber in nicht wenigen Fällen die wahren Haftgründe nicht genannt und Inhaftierungen nur aufgrund von Fiktionen angeordnet. |
3. |
Wer mit der Verfassungsbeschwerde die sachlichen Voraussetzungen der U-Haft bekämpfen will tut sich schwer. Dennoch gibt es sowohl bei der Anordnung/Aufrechterhaltung der U-Haft als auch bei der Ausgestaltung der konkreten Haftbedingungen Ansatzpunkte für eine verfassungsgerichtliche Beanstandung. Die verfassungsrechtlich gebotene Begründungstiefe bei Haftfortdauerentscheidungen wird oft nicht erfüllt. |
Rdn 1059
Literaturhinweise:
Broß, Untersuchungshaft im Rechtsstaat in: Strafverteidigung im Rechtsstaat (2009), 962
Hassemer, Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft, StV 1984, 40
Krehl, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 22.2.2005 – 2 BvR 109/05, StV 2005, 561
Lind, Der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO in der Praxis: Zur rechtstatsächlichen Überprüfung von Fluchtprognosen, StV 2019, 118 ff.
Mayer/Hunsmann, Leitlinien für die verfassungsrechtlich gebotene Begründungstiefe in Untersuchungshaftsachen, NStZ 2015, 325
Scheinfeld, Haftfortdauerentscheidungen und Rechtsbeugung – Zur strafrechtlichen Relevanz einer richterlichen Verweigerungshaltung, GA 2010, 684
s.a. die Hinw. bei → Untersuchungshaft, Allgemeines, Teil B Rdn 848, und bei → Verfassungsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 730, m.w.N.
Rdn 1060
1. Verfassungsverstöße kommen insbesondere bei der U-Haft vor, die Hassemer zutreffend als "Freiheitsberaubung gegenüber einem Unschuldigen" bezeichnet hat (Hassemer StV 1984, 40).
Rdn 1061
Es handelt sich hierbei um eine strafrechtliche Zwangsmaßnahme (→ Verfassungsbeschwerde, Begründetheit, Zwangsmaßnahmen, Allgemeines, Teil C Rdn 1111), in der sich aus verfassungsprozessrechtlicher Sicht besonders das Problem der Anfechtbarkeit oder Nichtanfechtbarkeit von Zwischenentscheidungen (→ Verfassungsbeschwerde, Zulässigkeit, Beschwerdegegenstand, Teil C Rdn 1165), der Rechtswegerschöpfung (→ Verfassungsbeschwerde, Zulässigkeit, Rechtswegerschöpfung, Teil C Rdn 1181) und der materiellen Subsidiarität (→ Verfassungsbeschwerde, Zulässigkeit, materielle Subsidiarität, Teil C Rdn 1176) stellt.
Rdn 1062
2.a) Der dominierende (Haft-)Grund, mit dem die U-Haft gerechtfertigt wird, ist die Fluchtgefahr (zu diesem Haftgrund Burhoff, EV, Rn 4649 ff.). Der Umgang der Praxis, aber auch der Gesetzgebung mit diesem Haftgrund ist skandalös. Die Fluchtgefahr würde sich kaum weniger effizient, aber weit grundrechtsverträglicher mit der Einführung der elektronischen Fußfessel bannen lassen (Roxin/Schünemann, § 30 Rn 3 m.w.N.). Herrmann hat recht, wenn er formuliert: "Es erscheint geradezu unvorstellbar, wie häufig davon auszugehen sein soll, dass die Gefahr der Flucht des Beschuldigten angenommen werden müsse" (Herrmann, Rn 683). Eine beispielhafte Auswertung der Entscheidungspraxis eines Strafsenats des Kammergerichts im Zeitraum von 2009–2016 ergab, dass die Prognose, dass sich der Beschuldigte, entließe man ihn aus der U-Haft, dem Verfahren entziehen würde, in nur 1,54 % der Fälle richtig war (Lind StV 2019, 118 ff.).
Rdn 1063
b)aa) Tatsächlich gibt es eine besorgniserregend große Anzahl an Fällen, in denen ein gesetzlich vorgesehener Haftgrund gar nicht gegeben ist, sondern lediglich floskelhaft begründet wird, um den wahren, aber illegalen Haftgrund (sog. apokryphe Haftgründe), vor allem
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des Drucks der öffentlichen Meinung |
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der Erleichterung der Ermittlungen |
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der Förderung der Geständnisbereitschaft |
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der Förderung der Therapie- und Behandlungsbereitschaft |
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der Erleichterung ausländerrechtlicher Maßnahmen |
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der Vorwegnahme der zu erwarteten Strafhaft |
zu verbergen (Herrmann, Rn 638 ff.).
Rdn 1064
bb) Die Verteidigung gegen diese apokryphen Haftgründe ist schwierig bis unmöglich (Herrmann, Rn 656), auch wenn das BVerfG die strenge Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes betont:
Rdn 1065
"In dem Rechtsinstitut der Untersuchungshaft wird das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 GG) und den Bedürfnissen einer wirksamen Verbrechensbekämpfung deutlich sichtbar. Ein gerechter Ausgleich dieser Spannung läßt sich im Rechtsstaat nur dadurch erreichen, daß den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der grundrechtlich verbürgte Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten und daher noch als unschuldig geltenden Beschuldigten als Korrektiv ständig entgegengehalten wird. Das bedeutet, daß der Eingriff in die Freiheit nur hinzunehmen ist, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als durch vorläufige Inhaftierung eines Verdächtigen ...