Daniel Hagmann, Monika Oerder
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Der Streitgegenstandsbegriff ist im BVerfGG nicht geregelt. |
2. |
Nicht eindeutig geklärt ist, ob man den Streitgegenstand eher objektiv oder eher subjektiv versteht. |
3. |
Der Streitgegenstand ist wichtig, um die Prüfungsbefugnis des BVerfG und die Rücknahmebefugnis des Beschwerdeführers zu bestimmen. |
Rdn 1136
Literaturhinweise:
Klein, Der Streitgegenstand der Verfassungsbeschwerde in: Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009, 83, zit. Rensen/Brink/Klein, S.
s.a. die Hinw. bei → Verfassungsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 730.
Rdn 1137
1. Das BVerfGG enthält keine ausdrückliche Regelung über den Streitgegenstand der Verfassungsbeschwerde. Nach h.M. ist dieser zweigliedrig und besteht aus der gerügten Grundrechtsverletzung durch eine bestimmte Maßnahme öffentlicher Gewalt, also ein präzise bezeichneter Hoheitsakt (BVerfGE 78, 320, 328). Damit kann es sich um eine Maßnahme der Exekutive, der Legislative oder der Judikativen handeln. Problematisch können Zurechnungsfragen beim Handeln Privater werden, wie z.B. beim Einsatz von V-Leuten oder dem Einsatz von Informanten. Die deutsche fachgerichtliche Rechtsprechung zur heimlichen Ausforschung ist im Wandel begriffen (MAH-Eschelbach, § 31 Rn 18 m.w.N.).
Rdn 1138
2. Nicht eindeutig geklärt ist, ob man den Streitgegenstand eher objektiv (dazu Teil C Rdn 1139) oder eher subjektiv (dazu Teil C Rdn 1140) versteht (zu den praktischen Auswirkungen dieses Unterschieds Teil C Rdn 1141 ff.).
Rdn 1139
a) Geht man von einem eher objektiven Streitgegenstandsbegriff aus, soll sich die behauptete Grundrechtsverletzung aus dem vorgetragenem Lebenssachverhalt ergeben. Die Rüge hinsichtlich der Verletzung bestimmter Verfassungsvorschriften hat nach dem Grundsatz "iura novit curia" keine streitgegenstandsbegrenzende Wirkung. Dementsprechend geht das BVerfG in seiner Rspr. bei einer zulässigen Verfassungsbeschwerde auch davon aus, dass im Wege der Begründetheitserstreckung die Überprüfung einer in zulässiger Weise angegriffenen Entscheidung auf ihre verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit hin unter jedem in Betracht kommenden Gesichtspunkt möglich ist (BVerfG NJW 2003, 3513; a. BVerfGE 1, 264, 271; 4, 7, 13; 6, 376, 385; 17, 252, 258; 42, 312, 325; 53, 366, 390; 55, 220, 241; 99, 100, 119; 102, 370, 384).
Rdn 1140
b) Versteht man den Streitgegenstandsbegriff eher subjektiv, kommt es zwar auch auf den Lebenssachverhalt an, aber auch auf den konkreten, vom Beschwerdeführer individualisierten Rügesachverhalt. Dieser ist freilich auslegbar, sodass die verletzte Grundgesetzbestimmung nicht genannt werden muss (BVerfGE 7, 111, 115; 21, 191, 194; 27, 297, 304 f.; 47, 182, 187; 59, 98, 101; 84, 366, 369; 85, 214, 217; 91, 176, 181; 92, 158, 175; 93, 99, 113; 115, 166, 180).
☆ Eine Umdeutung gegen den erklärten Willen des Beschwerdeführers kommt allerdings nicht in Betracht (BVerfGE 2, 347, 367).Umdeutung gegen den erklärten Willen des Beschwerdeführers kommt allerdings nicht in Betracht (BVerfGE 2, 347, 367).
Rdn 1141
3.a) Praktische Unterschiede zwischen beiden Streitgegenstandsbestimmungen können sich zunächst bei der Frage ergeben, wie weit das BVerfG seine Prüfung erstrecken darf oder sogar muss. Ob es wirklich ein Auseinanderfallen zwischen der Rspr. des 2. Senats des BVerfG, der seine Prüfung auf zwar nicht gerügte, aber grds. rügefähige Verstöße ausweitete (BVerfGE 71, 202, 204; 58, 163, 167, 54, 117, 124) und der Rspr. des 1. Senats des BVerfG, der sich konsequent auf die vom Beschwerdeführer erhobene individuelle Rüge beschränkt (BVerfGE 82, 6, 18), gibt, oder sich nicht durch Auslegung der Rüge das identische Ergebnis erreichen lässt, kann hier nicht entschieden werden (dazu Rensen/Brink/Klein, S. 83, 87 ff.; Benda/Klein, Rn 495 ff.).
☆ Vorsorglich sollte der anwaltliche Vertreter daher eher zu viele Verstöße nennen als zu wenige. Das gilt aber nicht, wenn die Gefahr besteht, dass die Unzulässigkeit einer Rüge, die Übrigen infiziert (so für den Fall der unterlassenen Anhörungsrüge bei einem Gehörsverstoß BVerfG NJW 2005, 3059). sollte der anwaltliche Vertreter daher eher zu viele Verstöße nennen als zu wenige. Das gilt aber nicht, wenn die Gefahr besteht, dass die Unzulässigkeit einer Rüge, die Übrigen "infiziert" (so für den Fall der unterlassenen Anhörungsrüge bei einem Gehörsverstoß BVerfG NJW 2005, 3059).
Rdn 1142
b)aa) Weitere Auswirkungen hat der o.a. "Streit" (Teil C Rdn 1138) bei der Rücknahme von Rügen.
Rdn 1143
bb) Umstr. ist, ob die Rücknahme der Rüge gar nicht, unbefristet, oder nur binnen der Monatsfrist zur Einlegung möglich ist (→ Anhörungsrügen, Zulässigkeit, Teil B Rdn 43, und → Verfassungsbeschwerde, formelle Subsidiarität, Teil C Rdn 1170). Ist die Rücknahme gar nicht oder nur befristet möglich, so könnte eine unzulässige Rüge, wie z.B. des Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG trotz Unterlassens der Anhörungsrüge, die gesamte Verfassungsbeschwerde, in der u.a. ein Verstoß gegen Art 103 Abs. 1 GG, aber ...