Dr. Andreas Geipel, Daniel Hagmann
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) wird derzeit zu Recht vom BVerfG mit einer erhöhten verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte überprüft. Die Rüge der Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG ist daher oft sinnvoll. |
2. |
Aus Art. 103 Abs. 2 GG können vier verfassungsrechtliche Gebote/Verbote, die zudem miteinander verwoben sind, entnommen werden. |
3. |
Aus Art. 103 Abs. 2 GG folgt nach der Rspr. des BVerfG eine grundsätzliche Kompetenzverteilung hinsichtlich der Bestimmung strafbaren Handelns zugunsten der Legislativen und zulasten der Judikativen. |
4. |
Die exakten Voraussetzungen der Zulässigkeit von Rechtsprechungsänderungen sind nicht geklärt. Zivilrechtlich wird teilweise Vertrauensschutz zugebilligt. Ob die gesetzesalternative Verurteilung, insbesondere bei einer Verurteilung wegen (gewerbsmäßig begangenen) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar ist, ist aktuell (Beschl. v. 11.3.2015 – 2 StR 495/12) dem großen Senat für Strafsachen zur Beantwortung vorgelegt. |
Rdn 796
Literaturhinweise:
Boujong, Rechtsfortbildung, Rechtsprechungsänderung und Vertrauensschutz in der Judikatur des Bundesgerichtshofs, in: Festschrift für Heldrich, 2005, S. 1235
Krahl, Fahruntüchtigkeit – Rückwirkende Änderung der Rechtsprechung und Art. 103 II GG, NJW 1991, 808
Lehner, Zur Bestimmtheit von Rechtsnormen – am Beispiel einer Entscheidung des Österreichischen VerfGH, NJW 1991, 890
Paeffgen, Art. 103 II GG, namentlich das Bestimmtheitsgebot und komplementäre Rechtssätze in der Entwicklung, StraFo 2007, 442
Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 2005
Schneider, Logik für Juristen, 2. Aufl., 1972
Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005
s.a. die Hinw. bei → Verfassungsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 730.
Rdn 797
1.a) Die Rüge der Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG ist – bei absolut geringen Erfolgsquoten der Verfassungsbeschwerde allgemein – dennoch oft sinnvoll (Beispiele bei MAH-Eschelbach, § 30 Rn 119; Gleichwohl bleibt es bei einer nummerischen Nichtbedeutung von als verfassungswidrig beanstandeten Normen, vgl. Lechner/Zuck, Einl., Rn 216). Die wenigen erfolgreichen Beanstandungen liegen an einer erhöhten verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte. "Bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung, ob die Strafgerichte diesen aus Art. 103 Abs. 2 GG folgenden Vorgaben gerecht geworden sind, ist das BVerfG nicht auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt. Der in Art. 103 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommende strenge Gesetzesvorbehalt erhöht die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte. Sowohl die Überschreitung der Grenzen des Strafgesetzes als auch die Konturierung und Präzisierung ihres Inhalts betreffen die Entscheidung über die Strafbarkeit und damit die Abgrenzung von Judikative und Legislative. Für die Klärung der insoweit aufgeworfenen Fragen ist das BVerfG zuständig" (BVerfG NJW 2010, 3209 ff. Rn 82). Auf Art. 103 Abs. 2 GG können sich auch juristische Personen berufen (BVerfG, Beschl. v. 9.1.2014 – 1 BvR 299/13).
Rdn 798
b) Das war nicht immer so, obgleich rhetorisch behauptet wurde, "gerade im Strafrecht, wo ein Unwerturteil über ein eigenverantwortliches Verhalten eines Menschen gefällt wird, hat der Einzelne einen Anspruch auf Gewissheit über die Möglichkeit einer Sanktion" (BVerfG NJW 2004, 739), aber warum dennoch Art. 103 Abs. 2 GG nur für Strafen, nicht aber für Maßregeln der Besserung und Sicherung gelten sollte, insbesondere nicht für die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung, ist bzw. war nicht ohne Weiteres einsichtig.
Rdn 799
Zwar mag es rhetorisch möglich sein, die Strafe als eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten mit Verhängung eines Übels, das dem Schuldausgleich dient, aufzufassen und eine Maßnahme der Besserung und Sicherung als rein präventive Maßnahme, auch wenn Anlasstat das zuvor beschriebene rechtswidrige und schuldhafte Verhalten war (so noch BVerfGE 109, 133, 167 f.), aber gleichwohl war diese Unterscheidung zur Rechtfertigung der nachträglichen Sicherungsverwahrung eher ein rhetorischer Kunstgriff als unmittelbar einsichtig. Das liegt daran, dass dieser rhetorische Kunstgriff nur gelingen kann, wenn der Strafzweck auf Schuldausgleich reduziert wird. Auch wenn das BVerfG sich nie ausdrücklich zu den verschiedenen Straftheorien geäußert hat, hat es doch die Vereinigungstheorie anerkannt, in der die Prävention eine Rolle spielt (vgl. BVerfGE 45, 187, 253 ff.). Kommt aber in beiden Bereichen, d.h. Strafe und Maßnahme der Sicherung der Präventionsgedanke vor, ist die Einschränkung des Art. 103 Abs. 2 GG nur auf Strafe nicht mehr unmittelbar verständlich. Entsprechend der Rechtswirklichkeit hat der EGMR festgestellt, dass es auch faktisch (kaum) einen Unterschied zwischen Strafe und der Sicherungsverwahrung (zur Prävention nach einer rechtwidrigen und schuldhaften Anlasstat) gibt (vgl. EGMR NJW 2010, 2495).
Rdn 800
2.a) Im Einzelnen können aus Art. 103 Abs. 2 GG vier verfassungsrechtliche Gebote/Verbote, di...