Detlef Burhoff, Dr. Peter Kotz
Rdn 672
Literaturhinweise:
S. die Hinw. bei → StrEG-Entschädigung, Allgemeines, Teil I Rdn 281.
Rdn 673
1. Jeder Verfahrensbetroffene, der eine Strafverfolgungsmaßnahme erlitten hat, kann de facto auf Entschädigung verzichten. Dies steht außer Zweifel, da eine entgegenstehende Vorschrift nicht existiert und er – je nach Verfahrensstadium – bereits die Herbeiführung einer Grundentscheidung (§ 8 StrEG) oder nach deren Ergehen die Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs (§ 10 StrEG) unterlassen kann (Dispositionsbefugnis).
Rdn 674
Beispiel:
In der HV, zu der der Angeklagte aus U-Haft vorgeführt wird, zeichnet sich schon bald ab, dass es der erhobenen Anklage an Substanz fehlt. Der Vorsitzende regt eine Verfahrenseinstellung nach § 153 StPO an. Der Sitzungsvertreter der StA verlässt den Verhandlungssaal, um beim Sachbearbeiter rückzufragen und erscheint wieder mit der Erklärung, der vom Gericht vorgeschlagenen Sachbehandlung werde zugestimmt mit der Maßgabe, dass der Angeklagte auf einen Anspruch nach StrEG verzichte. Der Vorsitzende nickt mit dem Kopf. Natürlich nimmt der Angeklagte dieses "Angebot" an.
Rdn 675
2. Unterschiedliche Auffassungen bestehen dazu, ob die verfahrensrechtliche Dispositionsbefugnis des Angeklagten so weit reicht, dass die Grundentscheidung nach § 8 Abs. 1 S. 1 StrEG unterbleiben darf, er das Gericht mithin von dessen Entscheidungspflicht befreien kann.
Rdn 676
Bejaht wurde dies vom OLG Stuttgart (Justiz 1992, 361 = MDR 1992, 897) in einem Fall, in dem der Angeklagte "keine Bedingungen gestellt" hatte. Auch in der Lit. wird überwiegend die Auffassung vertreten, ein derartiger Verzicht auf die Grundentscheidung sei zulässig und wirksam (BeckOK-StPO/Cornelius § 8 StrEG Rn 3; Kunz, StrEG, § 8 Rn 21; Meyer, StrEG, Vorbem. §§ 1 – 6 Rn 14; § 8 Rn 8).
Rdn 677
b) Zulässigkeit und Wirksamkeit eines Verzichts sind hingegen insoweit zu verneinen. Das Verfahrensergebnis basiert nämlich auf einer konkludenten Verständigung i.S.v. § 257c StPO. Intransparente, unkontrollierbare "Deals", informelle Absprachen, Vereinbarungen und "Gentlemen's Agreements" sind im Strafprozess indessen von Verfassungs wegen ausgeschlossen (BVerfG NJW 2013, 1058), was spätestens dann ruchbar würde, wenn das Zustandekommen der Entscheidung protokolliert werden würde, wozu das Gericht zumindest durch ein Negativattest verpflichtet ist (BVerfG NStZ 2014, 592). Hinzu kommt noch, dass eine derartige Verfahrensgestaltung – wie Seebode bereits zehn Jahre nach Inkrafttreten des StrEG festgestellt hat (NStZ 1982, 144, 147) – den Strafprozess insoweit auf den Kopf stellt:
☆ Die Einstellung des Verfahrens ist nach dem Entschädigungsgesetz auch in den Fällen des Ermessens Voraussetzung einer Prüfung der Ersatzpflicht wegen vorläufiger Strafverfolgungsmaßnahmen, nicht aber ist umgekehrt Voraussetzung der Einstellung eine vorzeitige Lösung der Entschädigungsfrage. Soll die Regel umgekehrt und eine für den Betroffenen (nach dem Gesetz erst später und nur fakultativ) nachteilige Regelung der möglichen Entschädigung sachlich und zeitlich vorgezogen werden, also der Entschädigungsausschluss Voraussetzung statt mögliche Folge der Verfahrenseinstellung sein.
Rdn 678
Schließlich kann die Entscheidung nach § 8 Abs. 1 S. 1 StrEG schon nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht dadurch entbehrlich werden, dass der Angeklagte im Grundverfahren vor den Strafgerichten erklärt, er mache keinen Schaden geltend oder er verzichte auf etwaige Ansprüche (KG VRS 72, 380; OLG Düsseldorf MDR 1989, 92 m. Anm. Meyer JurBüro 1990, 797; NJW 1999, 2830; OLG München NJW 1973, 721; AG Pasewalk NStZ-RR 2004, 352; i. Erg. wohl auch: BGH NJW 1990, 1000; Meyer-Goßner/Schmitt, § 8 StrEG Rn 3).
Rdn 679
3. Das Unterlassen der von § 8 Abs. 1 StrEG geforderten Entscheidung kann deshalb mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden (OLG Düsseldorf NJW 1999, 2830; OLG München NJW 1973, 721; → StrEG-Entschädigung, Grundentscheidung, Anfechtung, Teil I Rdn 500; zur sofortigen Beschwerde Burhoff, EV, Rn 3366; Burhoff/Kotz/Kotz, RM, Teil A Rn 612 ff.).
Siehe auch: → StrEG-Entschädigung, Allgemeines, Teil I Rdn 280 m.w.N.