rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweislast des Sozialleistungsträgers im Verfahren der Abzweigung von Kindergeld für ein volljähriges, behindertes, teilstationär in einer Behindertenwerkstatt untergebrachtes Kind
Leitsatz (redaktionell)
1. Entstehen dem Kindergeldberechtigten eigene Unterhaltsaufwendungen für das volljährige behinderte, teilstationär in einer Behindertenwerkstatt untergebrachte, im Übrigen im Haushalt des Kindergeldberechtigten lebende Kind mindestens in Höhe des Kindergeldes, kommt eine Abzweigung des Kindergelds an den Sozialleistungsträger nicht in Betracht.
2. Es spricht eine tatsächliche, anhand konkreter Feststellungen im Einzelfall widerlegliche Vermutung dafür, dass die Unterhaltsleistungen der Kindergeldberechtigten für ihr behindertes Kind den Kindergeldbetrag übersteigen, wenn die Kindergeldberechtigten selbst nicht von Sozialhilfeleistungen leben.
2. Bei der im Rahmen des Abzweigungsverfahrens zu treffenden Ermessensentscheidung der Familienkasse sind grundsätzlich sämtliche Unterhaltsaufwendungen der Eltern zur Deckung des Lebensbedarfes des Kindes i. S. v. § 1610 Abs. 2 BGB zu berücksichtigen; insoweit ist nicht danach zu differenzieren, ob Unterhaltsaufwendungen dem Grundbedarf des Kindes oder dem behinderungsbedingten Mehrbedarf zuzurechnen sind. Die Entscheidung über die Abzweigung hängt somit nicht davon ab, ob die Aufwendungen nach sozialhilferechtlichen Maßstäben angemessen sind, sondern davon, ob und in welcher Höhe Aufwendungen für das Kind entstanden sind, die dessen allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dessen individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf betreffen.
3. Es nicht allein Sache des Kindergeldberechtigten, den für das Kind erbrachten Unterhalt „nachzuweisen”, um so eine Abzweigung abzuwenden. Der Nachweis, dass die Voraussetzungen für eine Abzweigung erfüllt sind, obliegt vorrangig dem Sozialleistungsträger, der die Abzweigung des Kindergelds beantragt hat.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 1 Sätze 1, 3-4, § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3; SGB XII § 43 Abs. 2 S. 1, § 94 Abs. 1 S. 3; FGO § 102; AO § 5; BGB §§ 1601-1603, 1610 Abs. 2
Nachgehend
Tenor
1. Der Abzweigungsbescheid vom 29. Juni 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27. Oktober 2011 wird aufgehoben.
2. Die Kosten des Rechtstreits tragen die Beklagte zu 40 v.H., die Klägerin zu 60 v.H.
3. Die Revision wird zugelassen.
4. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten der Klägerin vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte und der Beigeladene dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, wenn nicht zuvor die Klägerin Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Umstritten ist die Abzweigung von Kindergeld an das Landratsamt für das Kind B. der Klägerin mit Bescheid vom 29. Juni 2010 (Bl. 122, 124 d. KG-Akte) in der Fassung der Einspruchsentscheidung 26. Oktober 2011 (Bl. 184, 188 d. KG-Akte).
Die Klägerin ist die leibliche Mutter des am 3. August 1977 geborenen Kindes B. B. ist zu 100 v.H. behindert. Ihr Schwerbehindertenausweis enthält die Merkzeichen „B”, „G”, „H” (Bl. 149 d. KG-Akte). Sie lebt im Haushalt der Eltern. Tagsüber besucht sie die Werkstatt für behinderte Menschen, im Übrigen betreute sie die Klägerin. B. bezieht monatliche Leistungen der Grundsicherung i. H. v. 71,29 EUR (Bl. 116 d. KG-Akte), Erwerbsminderungsrente und Werkstatteinkommen.
Der Sozialleistungsträger beantragte mit Schreiben vom 19. März 2010 die Abzweigung des Kindergeldes für B. unter Hinweis auf die Entscheidung des BFH III R 6/07 (Bl. 96 d. KG-Akte) an sich.
Die Beklagte stellte daraufhin die Zahlung des Kindergeldes ab April 2010 ein und ermittelte bei der Klägerin, welche Unterhaltsaufwendungen sie für B. leiste.
Die Klägerin gab an, dass die Tochter mietfrei im Familienhaushalt lebe (Bl. 103 d. KG-Akte) und sie Aufwendungen für den monatlichen Friseur, Fußpflege, verschiedene Kurse wie Backkurs, Tonkurs im Rahmen der Erwachsenenbildung, Schwimmwettkämpfe, zweimal jährlich Bildungsreise, einschließlich Fahrtkosten sowie Urlaubsaufwendungen und Fahrtkosten zu behandelnden Ärzten (Bl. 109 d. KG-Akte) trage. Sie legte Belege bei (Bl. 110ff. d. KG-Akte). Sie hat ergänzend angegeben, dass monatliche Fahrtkosten von 24,00 EUR für ihre Tochter anfielen und der wöchentliche Bedarf an Lebensmitteln und Getränken 32,00 betrage (Bl. 113 d. KG-Akte).
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 29. Juni 2010 (Bl. 122, 124 d. KG-Akte) zweigte die Beklagte ab April 2010 Kindergeld i. H. v. 130,22 EUR an den Sozialleistungsträger ab.
Daraufhin legte die Klägerin Einspruch ein (Bl. 129 d. KG-Akte).
Mit Bescheid vom 18. November 2010 (Bl. 139 d. KG-Akte) zog die Beklagte den Sozialleistungsträger zum Einspruchsverfahren der Klägerin hinzu und bat die Klägerin um weitere Bezifferung der Unterhaltsaufwendungen für B. Auf dem von der Beklagten bereitgestelltem Vordruck gab die Klägerin an (Bl. 144f. d. KG-Akte), dass B...