Entscheidungsstichwort (Thema)
Interessenabwägung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Anordnung der aufschiebenden Wirkung. maßgeblicher Zeitpunkt. besondere Dringlichkeit. effektiver Rechtsschutz
Orientierungssatz
1. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 86 b Abs. 1 SGG, ist eine Interessenabwägung vorzunehmen. Spricht mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit des ergangenen Bescheides, ist regelmäßig die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen, weil dann ein überwiegendes Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsakts nicht erkennbar ist.
2. Maßgebend für die Prüfung ist im Eilverfahren der Zeitpunkt, in dem das Gericht entscheidet, bei der Beschwerde der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung. Die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und damit das Überwiegen des Aussetzungsinteresses scheidet aus, wenn sie nur vor dem Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung vorgelegen hat. Dann ist die besondere Dringlichkeit durch Zeitablauf überholt. Dem Rechtsschutzsuchenden ist es dann zumutbar, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.
Normenkette
SGG § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 123; SGB II § 39 Nr. 1; VwGO § 80 Abs. 6; GG Art. 19 Abs. 4
Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen die beiden Beschlüsse des Sozialgerichts Gotha vom 5. Januar 2012 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat den Eilantrag - allerdings nur im Ergebnis - zu Recht abgelehnt.
Nach § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet das Gericht über die vom Kläger behaupteten Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Diese Bestimmung ist Ausfluss des von der Rechtsprechung entwickelten Meistbegünstigungsgrundsatzes. Daraus folgt, dass der Kläger grundsätzlich den Antrag stellen will, der ihm am besten zum Ziel verhilft. In der Regel will der Kläger alles zugesprochen haben, was ihm aufgrund des Sachverhaltes zusteht.
Ausgehend hiervon wäre der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für die Monate November und Dezember 2011 - so aber das Sozialgericht - nicht statthaft. In der Hauptsache ist für diesen Zeitraum die reine Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG die richtige Klageart. Erweist sich der angefochtene Aufhebungsbescheid vom 28. November 2011 als rechtswidrig, lebt die ursprüngliche Leistungsbewilligung für die Zeit vom 1. November bis 31. Dezember 2011 wieder auf, mit der Folge dass es keiner Verurteilung des Antragsgegners zur Leistung bedarf, denn der ursprüngliche Bewilligungsbescheid hat dann für die Beteiligten nach § 77 SGG Bindungswirkung und die Antragstellerin kann hieraus einen Zahlungsanspruch ableiten. Für das Eilverfahren ist insoweit § 86 b Abs. 1 SGG einschlägig.
Nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen Widerspruch und Klage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Die aufschiebende Wirkung entfällt nach § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Einschlägig ist insoweit § 39 Nr. 1 SGB II n. F. Hiernach haben Widerspruch und Klage gegen einen Verwaltungsakt, der Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende aufhebt, zurücknimmt, widerruft, die Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellt oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit oder Pflichten erwerbsfähiger Leistungsberechtigter bei der Eingliederung in Arbeit regelt, keine aufschiebende Wirkung.
Im Verfahren über die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 86 b Abs. 1 SGG ist eine Interessenabwägung vorzunehmen. Erweist sich der Bescheid nach summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig, ist der Antrag grundsätzlich abzulehnen. Spricht dagegen mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit, ist in der Regel die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen, weil dann ein überwiegendes Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsaktes nicht erkennbar ist. Im Rahmen der Abwägung ist zusätzlich die besondere Dringlichkeit zur Rechtfertigung einer vorläufigen Regelung zu beachten.
Der Eilantrag scheitert - entgegen der Auffassung des Sozialgerichts - nicht schon daran, weil die Antragstellerin sich nach Einlegen des Widerspruchs nicht noch einmal an den Antragsgegner gewendet hat, um eine Aussetzung der Vollziehung zu erwirken. Anders als nach § 80 Abs. 6 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann sich der Antragsteller im Rahmens des § 86 b Abs. 1 SGG nach Erlass des belastenden Verwaltungsaktes direkt an das Gericht wenden (vgl. Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 10. April 2003 - L 2 RJ 377/02).
Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob sich der angefochtene Aufhebungsbescheid vom 28. November 2011 nach summarischer Prüfung als rechtmäßig oder rechtswidrig erweist, denn es fehlt an dem bei der Abwägung des Aussetzungsinteresses mit dem Vollzugsinteresse erforderlichen Überwiegen des Aussetzungsinteresses. Maßgebend für die Prüf...