Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Überprüfung der Verordnungsfähigkeit durch den Apotheker

 

Orientierungssatz

Es ist nicht Ziel des Arzneilieferungsvertrages, Apotheken von ihren spezifischen beruflichen Pflichten zu dispensieren, etwa nicht zugelassene Arzneimittel auf Kosten der GKV an Versicherte abzugeben. Der Apotheker ist verpflichtet, eine vertragsärztliche Verordnung nach höherrangigem Recht zu überprüfen (vgl BSG vom 13.9.2011 - B 1 KR 23/10 R = BSGE 109, 116 = SozR 4-2500 § 125 Nr 7). Dem steht auch § 4 Abs 4 S 2 Arzneilieferungsvertrag Thüringen in der ab 1.10.2008 gültigen Fassung nicht entgegen, nach dem die Apotheker grundsätzlich nicht zur Überprüfung der Verordnungsfähigkeit eines verordneten Arzneimittels verpflichtet sind. Dieser bezieht sich weder vom Wortlaut noch vom Regelungszweck her auf die Zulassung des Arzneimittels nach § 21 AMG 1976. Diese Prüfungen gehören zum originären Aufgabengebiet der Apotheken (vgl BSG vom 17.3.2005 - B 3 KR 2/05 R = BSGE 94, 213 = SozR 4-5570 § 30 Nr 1).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 23.11.2017; Aktenzeichen B 3 KR 36/17 B)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 28. Januar 2014 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte zu Recht in mehreren Fällen bereits gezahlte Vergütungen für die an ihren Versicherten abgegebenen Oxybutynin Instillationssets 0,1 % (Hersteller: G…us-Apotheke) in Höhe von 7.368,79 € beanstandet und gegen unstreitige Vergütungsforderungen des Klägers aus späteren Arzneimittelabgaben aufgerechnet hat (Retaxierung).

Der Kläger ist Inhaber der "Apotheke ..." in H. und Mitglied des Th. A. e.V.. Das bei der Beklagten versicherte Kind D. T. (im Folgenden: Versicherter) löste in den Jahren 2008 bis 2011 vertragsärztliche Rezepte, ausgestellt von Dr. H., tätig in der Klinik und Poliklinik der Universität E.-N. - Sozialpädiatrisches Zentrum -, in der Apotheke des Klägers ein. Diese lauteten jeweils:

"Oxybutynin 0,1 % Grachtenhaus Instillationsset

Set 10 ml (10 mg), PZN 1915747."

Oxybutynin gehört laut Fachinformation zur sogenannten Lauer-Taxe (Stand: 8. Oktober 2012, Blatt 180 der Gerichtsakte) zur Gruppe der Anticholinergika, die als Antagonisten an dem System des Parasympathikus angreifen und die Wirkung von Acetylcholin hemmen (Parasympatholytikum). Intravesikale Anwendung von Oxybutynin führt zu einer Reduktion der Detrusoraktivität, einer Erhöhung der cystomerischen Harnblasen-Kapazität, einer Abnahme des Harnblasendruckes und damit zu einer Verringerung der Frequenz der CIC (Clean Internmittent Catherization, Selbstkatheterisierung). Hersteller ist die G.-Apotheke in H.

Der Kläger gab von November 2008 bis Dezember 2009 die vertragsärztlich verordneten Oxybutynin Instillationssets an den Versicherten ab. Die Beklagte zahlte zunächst die vom Kläger berechneten Beträge, beanstandete diese später und verrechnete ihre Forderungen gegen ihn mit unstreitigen Forderungen. Zur Begründung führte sie aus, das Arzneimittel sei in Deutschland nicht zugelassen, die Angaben der Lauer-Taxe seien nicht verbindlich. Maßgebend sei allein der objektive arzneimittelrechtliche Zulassungsstatus. Die bloße Verkehrsfähigkeit eines Arzneimittels, die keineswegs mit einer Zulassung gleichzusetzen sei, begründe im Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, vgl. Urteil vom 27. September 2009 - Az.: B 1 KR 6/04 R) keinen Versorgungsanspruch. Vorschriften des Arzneilieferungsvertrages (ALV) führten insoweit nicht zu einer Änderung. Hiergegen wandte der Kläger ein, der Versicherte leide an einer neurogenen Blasenentleerungsstörung und werde in der Spina-bifida-Ambulanz des Universitätsklinikums E. betreut. Zu der Behandlung mit Oxybutynin 0,1 % G.-Installationsset gebe es nach dem schriftlichen Ausführungen der Dr. H. vom 9. Dezember 2009 keine Alternative.

Am 4. April 2011 hat der Kläger beim Sozialgericht (SG) Klage auf Zahlung von 6.443,36 € nebst Zinsen erhoben und am 2. Mai 2011 die Klage auf Zahlung von insgesamt 7.368,79 € erweitert. Eine unzureichende Therapie der Blasenentleerungsstörung des Versicherten könne zu einem akuten oder chronischen Nierenversagen und in der Folge möglicherweise zum Tode führen oder wenigstens die Notwendigkeit einer Nierentransplantation und Dialysebehandlung bedingen. Primäre Behandlungsmethode sei die orale Verabreichung von Oxybutynin, sekundäre Behandlungsmethode die intravesikale Oxybutynin-Behandlung. Diese Behandlung werde ebenfalls in den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF-Leitlinien) - hier: Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie Nr. 006/007 Stand: 04/2008 - empfohlen. Trotz des medizinischen Bedarfs existierten derzeit keine Anticholinergika, insbesondere keine für die Bundesrepublik ...

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